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Bücher: Meine Komplizinnen aus anderen Jahrhunderten

Eine Liebeserklärung von JULIA PÜHRINGER



Die Hälfte der Bücher, die Julia Pühringer liest, ist vergriffen. Das liegt daran, dass sie hauptsächlich Autorinnen aus längst vergangenen Zeiten liest. In diesen Büchern entdeckt sie einen anderen Blick auf die Welt, der uns viel zu lange und viel zu oft vorenthalten wurde: einen weiblichen. Eine Anleitung zum Fährtenlesen und zur Revolution im Bücherregal.


Büchersammlung im Bücherregal I Vicki Baum I Kay Boyle I Foto von Julia Pühringer I Frauenlesen I myGiulia

Vor einigen Jahren ist es losgegangen, auf Twitter: #Frauenlesen hieß der Hashtag, unter dem wir zu hinterfragen begannen, warum wir eigentlich so verdammt wenige Autorinnen kennen. Wer Bücher von Autorinnen aus der Vergangenheit sucht, lernt zwangsläufig, auch Ausschlussmechanismen zu erkennen. Denn es hat natürlich einen Grund, warum man die Bücher von Autorinnen nicht gelesen hat. Es beginnt damit, dass man nicht von ihnen hört oder liest, wenn man sie nicht aktiv sucht. Sie stehen nicht auf „100 Bücher, die man gelesen haben soll, bevor man stirbt“-Listen. Im Schulunterricht kommen sie nicht vor – im ganzen Literaturkanon sind Autorinnen bei weitem nicht in dem Ausmaß vertreten, in dem sie publiziert haben.



Das Problem mit der Optik


Was hilft? Der Zufall. Da stehen sie dann, die Bücher vergessener Autorinnen, im öffentlichen Bücherschrank, in einem Stapel am Flohmarkt oder in der Wühlkiste vor einer Buchhandlung. Aber Achtung: Die Covergestaltung von Büchern von Autorinnen ist oft so, dass zumindest ich nicht hingegriffen habe: Auf dem Cover starrt eine Frau in einem roten Mantel sinnend aufs Meer? Nichts für mich! Kitsch am Cover von Colette und Sagan haben mich von meinen späteren Lieblingen vertrieben, ich habe Autorinnen verpasst, deren Werk für einen „Frauenmarkt“ gestaltet war, bei dem ich mich nicht mitgemeint fühlte – und da haben wir das Fass mit den oft irreführenden oder schlicht doofen deutschen Titeln von übersetzten Büchern noch gar nicht aufgemacht.





Todesfalle Klappentext


Erst kürzlich kam mir ein Buch von Benoîte Groult unter: „Leben will ich“ aus dem Jahr 1983. „Ohne Bösartigkeit, ohne beißenden Zynismus, mit französischer Lockerheit und mit Esprit geht Benoîte Groult fast spielerisch mit einem Thema um, dem hierzulande oft verkrampft und mit penetranter Larmoyanz begegnet wird“, wird auf der Rückseite die Abendzeitung zitiert. Wenige Seiten später befinde ich mich in einer lesbischen Liebesgeschichte (DAS steht komischerweise NICHT auf dem Klappentext) während des Ersten Weltkriegs, ihre Gatten aus teils arrangierten Ehen sind im Krieg, zwei Frauen zusammen glücklich. Wie soll man Bücher finden, wenn sogar ihr eigener Einband schwindelt? Wenn sie sinngemäß als „ausnahmsweise nicht ganz so schlimmer Weiberkram” abgetan werden?



Anna Jeller I Buchhändlerin in Wien I Bücher I Buchhandlung I myGiulia I Foto von Julia Pühringer
Anna Jeller, Buchhändlerin in Wien / © Julia Pühringer

Im Gespräch mit der legendären Wiener Buchhändlerin Anna Jeller wird die spannende und beglückende Schnitzeljagd nach Autorinnen Thema. Was man bei dieser Suche braucht: einen neuen Blick. Frauen, die als „Musen“ berühmter Männer beschrieben werden, waren oft eigenständige Künstlerinnen und Autorinnen. Von Rilke führt der Weg zu Lou Andreas-Salomé, von Joseph Roth zu Irmgard Keun, von Brecht zu Elisabeth Hauptmann, Thomas Mann führt zu einer ganzen Reihe von tollen Frauen, nicht zuletzt seiner Tochter Erika Mann und deren Freundin Annemarie Schwarzenbach. Und schon lernt man, dass nicht nur Bücher von Autoren von den Nazis verbrannt wurden, sondern durchaus auch von Autorinnen (keine Sorge, die Google-Suche ändert das sofort zu „Autoren“) – von denen man allerdings nachher nie mehr hörte, weil sie lange Zeit nicht mehr aufgelegt wurden. Und schon ist man bei den Autorinnen Gabriele Tergit, Christa Anita Brück, Gina Kaus, Maria Leitner.


Wo findet man sie noch, die Autorinnen? In Literaturkalendern und Textsammlungen, rät Anna Jeller, „die sind eine Quelle der Inspiration“. So hat sie selbst Autorin Mavis Gallant entdeckt, die sie in der „Edition Anna Jeller“ neu aufgelegt hat. „Große Fundgruben sind auch gut geschriebene Biografien, die ein sehr gutes Personenregister haben“, so Jeller. Denn, wie könnte es anders sein:

Lässige Frauen waren immer schon mit anderen lässigen Frauen befreundet. So führt Hannah Arendt zur Autorin Mary McCarthy, Virginia Woolf zu ihrer Freundin und Geliebten Vita Sackville-West. Und wenn man Frauen vor allem durch Frauen findet, „ist sofort Schluss mit der Definition über die Lebenspartner“, sagt Anna Jeller lachend.



Anna Jeller I Buchhändler I Büchersammlung I Buchhandlung in Wien I Foto von Julia Pühringer I myGiulia
Anna Jeller in ihrer Buchhandlung im 4. Wiener Gemeindebezirk / © Julia Pühringer

Eine weitere Fundgrube: Epochenüberblicke wie „Paris war eine Frau“ oder „Künstlerinnen in New York“. Und obwohl ich mich selbst immer dagegen verwehre, Frauen nur gesammelt und in Kürze abzuhandeln, weiß ich doch: Diese Sammelbände machen sich durch ihre tolle Arbeit quasi selbst überflüssig – weil man durch sie bei den einzelnen Werken der Künstlerinnen landet.

Es sind Wiederentdeckerinnen wie Nicole Seifert („Frauenliteratur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021) und die deutsche Buchhändlerin Magda Birkmann, die via Social Media in ihrem eigenen Newsletter und neuerdings im Team mit Seifert auch für Rowohlt Bücher von Autorinnen neu entdeckt. „Ein Mädchen mit Prokura“ von Christa Anita Brück und „Freundliche junge Damen“ von Mary Renault sind die ersten beiden Bücher der Reihe.


Aber was tun, wenn nur ein Werk aus einer ganzen schriftstellerischen Biografie lieferbar ist? Ich treibe mich viel auf der Gebraucht-Buch-Plattform Medimops herum, suche mit staubigen Fingern am Flohmarkt und in Antiquariaten – viele davon findet man auch online im „Zentralen Verzeichnis Antiquarischer Bücher“ ZVAB. Auch das hat Amazon übernommen, man kann die Antiquariate aber auch direkt anmailen. Eine neue Strategie ist auch: Ich suche Bücher von Autorinnen, wo ich nur Bücher von Autoren kenne. Ich liebe Graham Greenes Roman „Die Stunde der Komödianten“ über Haiti – aber sollte ich nicht doch lieber einen Roman von einer Autorin lesen, die aus Haiti stammt? Eine Freundin empfahl „The Dew Breaker” vonEdwidge Danticat. Arg, lustig und augenöffnend.



Buchsammlung I Frauenlesen I Foto von Julia Pühringers I Komplizinnen aus vergangenen Zeiten I myGiulia
Julia Pühringers Komplizinnen aus vergangenen Zeiten

Und natürlich hilft die Buchhändlerin des Vertrauens. Sie weiß um die Ausrichtung von Verlagen wie dem Aviva-Verlag, der viele Autorinnen neu veröffentlicht, oder Dörlemann, wo viele vergessene Autorinnen aus dem angelsächsischen Raum neu aufgelegt wurden. Die Buchhändlerin weiß Antwort, wenn man etwa italienische Autorinnen sucht, oder lateinamerikanische. Und wenn nicht, dann weiß sie am besten, wo sie zu finden sind – auch gemeinsam lässt sich ein Literaturkanon neu erarbeiten.


Anna Jeller empfiehlt weiters vergriffene Reihen, in denen viele Autorinnen veröffentlicht wurden: Rowohlts „Neue Frau“, oder „Die Frau in der Gesellschaft“ im Fischer Verlag – auch hier lässt sich beim antiquarisch Lesen gut beginnen. Und so wird die Spurensuche Buch für Buch zu einer eigenen Lesebiografie. Allein beim Verfassen DIESES Textes bin ich schon wieder auf zehn neue Autorinnen gestoßen, die sofort auf die Liste kamen.



Ein Flohmarktfund von Julia Pühringer, mit einer besonders bezaubernden Widmung.

Wer diese romantische Widmung wohl geschrieben hat? Hach!



Wenig überraschend: In Büchern von widerständigen Autorinnen finde ich Komplizinnen aus vergangenen Jahrhunderten. Frauenleben in den Büchern anderer abgebildet zu finden, macht mutiger, selbstsicherer. Auch von den Leben früherer Frauen zu lesen – zu wissen, wie war das, jung sein, 1910. Verliebt, 1950. Auf der Flucht, 1938. Solidarische Frauenfreundschaften zu haben, immer schon.


Es ist, als wäre mein Freundinnenkreis plötzlich riesengroß: Die Autorinnen und ihre Frauenfiguren werden zu meiner selbstgewählten Galerie von Ahninnen, sie winken mir zu aus ihren anderen Jahrzehnten und Jahrhunderten, aber auch ihre Mittelsfrauen, jene, die ihre Bücher 1970 oder 1980 verlegt haben, sie in einen Literaturkalender aufgenommen oder in eine Anthologie geschrieben haben, und so ermöglicht haben, dass ich sie wiederfinde. Manchmal winken mir auch diejenigen, die die Bücher vormals gelesen oder verschenkt haben, mit Widmungen aus 1949 oder aus längst ungültigen Bibliotheks-Verleihlisten auf der letzten Seite.


Und natürlich verändert sich so mein Blick auch andersherum: ein schönes Cover, Bestsellerliste, fette Berichterstattung im Feuilleton – die Story eines mit sich selbst hadernden 30-jährigen Mannes aus Deutschland interessiert mich trotzdem in den seltensten Fällen. Ich brauche den Platz im Regal außerdem für all die Autorinnen! „Es ist, wie wenn du einen Stein ins Wasser wirfst, es entstehen immer mehr Kreise“, meint Anna Jeller. Ich werde nicht mehr aufhören, Steine ins Wasser zu werfen, soviel steht fest.



Anna Jellers Buchhandlung und ihre Edition


Literaturkalender (Auswahl)


 

Unsere Autorin


Portrait Julia Pühringer I Journalistin und Filmkritikerin I myGiulia

Julia Pühringer ist Journalistin und Filmkritikerin und schreit gern ins Internet. Sie schreibt u. a. für tele, Falter, den Standard und die an.schläge.












 

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