top of page

Online-Dating: Im Dienste der Liebe?


TEXT: KATJA HORNINGER


Die Sehnsucht nach Liebe ist Teil unserer menschlichen Existenz. Ob Online-Dating uns näher zur Liebe bringt oder nicht, können wir selbst ganz bewusst mitgestalten.



Romantisches Date von zwei Personen_Kerzenlicht_Paar_Treffen_Haendchen halten_Rene Ranisch_Unsplash_myGiulia
Foto: René Ranisch / unsplash

Die Geschichte des Datings ist auch eine Geschichte des Feminismus, sagt die Autorin Moira Weigel, und hat ein Buch zum Thema geschrieben. Dating entstand, als Frauen zum Arbeiten in die Städte aufbrachen; das Wort „Date“ tauchte erstmals 1896 auf. Wollte sich eine Frau mit einem Mann treffen, musste sie Zeit und Ort vereinbaren. Die ersten Frauen, die Dates hatten, waren Arbeiterinnen und Immigrantinnen. Später waren es auch wohlhabende Frauen und Dating wurde schick.


Zeitsprung ins 21. Jahrhundert. Mit dem Start von Tinder im Jahr 2012 wurde das Swipen und damit Online-Dating zum Massenphänomen. Zu Tinder gesellten sich rasch weitere Apps, darunter etwa Bumble, OKCupid oder Hinge. Die LGBTQIA*-Community nutzt ihre eigenen Dating-Apps, zu denen Her, Scissr und Grindr zählen. Grindr kam noch vor Tinder, im Jahr 2009, als erste Dating-App für schwule, bisexuelle, queere Männer und Transmänner auf den Markt.



Während immer mehr Menschen Dating-Apps nutzen, häufen sich die Erzählungen von frustrierenden Erfahrungen beim Online-Dating.


Online-Dating boomt


Im Jahr 2023 überstieg die Zahl der Nutzer*innen von Online-Dating-Diensten weltweit 381 Millionen. Laut einer Umfrage in Deutschland aus dem Jahr 2023 haben rund 77 Prozent der 16- bis 29-jährigen Internetnutzer*innen schon einmal online gedatet. Von den 30- bis 49-Jährigen waren es zwei Drittel. Bei den Befragten über 65 Jahren waren es 23 Prozent.


Doch während immer mehr Menschen Dating-Apps nutzen, häufen sich die Erzählungen von frustrierenden Erfahrungen beim Online-Dating. Immer öfter wird in den Medien über fiese Dating-Trends berichtet. Mit Tinder Nightmares gibt es sogar einen populären Instagram-Account, der Einblicke in nervige bis erschütternde Dating-Erfahrungen gibt. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass sich Online-Dating negativ auf die Psyche auswirken kann. Laut Johanna Degen, Sozialpsychologin an der Universität Flensburg, die zum Thema forscht und auf Instagram Wissenschaft und Praxis zusammenführt, zählen zu den Folgen Stress, Essstörungen, suchtähnliches Verhalten und Selbstwertprobleme. Erlebnisse wie Ghosting, das plötzlich Verschwinden des Gegenübers, haben das Potenzial, die Beziehungsfähigkeit der Betroffenen negativ zu beeinflussen.


Der Therapeut Adam D. Blum aus San Francisco vermutet, dass LGBTQIA*-Personen Ghosting sogar häufiger erleben als heterosexuelle Menschen. „Diese Menschen haben gelernt, Expert*innen im Verstecken zu sein, um zu überleben. Ghosting ist eine Form von Verstecken“, begründet Blum seine These. Gleichzeitig würde sich Ghosting auf queere Menschen oft besonders verheerend auswirken. Die meisten queeren Personen seien mit dem Glauben aufgewachsen, dass ihre sexuelle Orientierung abstoßend ist. Diese Form der frühen Ablehnung kann laut Blum dazu führen, dass es für diese Menschen besonders schmerzhaft ist, wenn ihre tiefste Wunde der Zurückweisung durch eine Ghosting- Erfahrung berührt wird.



Handy in der Hand_Frau_SMS schreiben_Textnachricht_Online Dating_Priscilla Du Preez_Unsplash_myGiulia
Foto: Priscilla Du Preez / unsplash

Das Phänomen Online-Dating-Burnout


Neben Ghosting gibt es andere frustrierende Dating-Trends mit klingenden Namen wie Bread Crumbling, Orbiting oder Benching. Diese Phänomene und die endlose Auswahl an potenziellen Dating-Partner*innen sowie die Schnelllebigkeit und Unverbindlichkeit auf den Apps führen dazu, dass sich immer mehr Menschen ausgebrannt fühlen: Sie leiden unter Online-Dating-Burnout. Das bestätigt auch eine Studie der Fresenius-Hochschule unter der Leitung der Psychologin Wera Aretz, wonach 12 bis 14 Prozent der Nutzer*innen von Dating-Apps Burnout-ähnliche Symptome aufweisen. Was Menschen beim Online-Dating oft zusätzlich belastet, ist der Vorwurf, dass es gar nicht im Interesse der App-Betreiber*innen sei, Menschen zu glücklichen Paaren zu machen. Denn nur suchende Singles seien lukrative Singles. Auch der Vorwurf, dass die Menschen auf den Apps nicht ernsthaft eine Beziehung wollen, sorgt für Verunsicherung. Diese Vorwürfe lassen sich jedoch nicht durch Studien belegen. Wera Aretz sagt, dass die meisten Nutzer*innen die Liebe fürs Leben suchen – auch wenn sie auf dem Weg dorthin oft auch offen für kurzfristigen Spaß seien. Zudem ist Aretz überzeugt, dass die Betreiber*innen der Apps Erfolgsgeschichten von glücklichen Paaren brauchen.



Wir dürfen uns daran erinnern, dass Liebe und Verbindung menschliche Grundbedürfnisse sind. Im Kern sehnen wir uns alle nach Liebe.


Von der Couch aus jemanden kennenlernen


Online-Dating-Plattformen sind die Nummer Eins unter den „Orten”, an denen sich Paare heute kennenlernen. Für Menschen, die beruflich stark eingebunden sind, für Alleinerziehende, Menschen auf dem Land und Ältere sind die Apps von Vorteil. Während sich früher Paare bei Tänzen, Partys oder in Bars trafen und einander über Freund*innen oder den Arbeitsplatz kennenlernten, werden nun mithilfe der Apps Kontakte in Sekundenschnelle von der Couch aus geknüpft. Auf diese Weise können wir also theoretisch immer und überall jemanden kennenlernen. Schweizer Untersuchungen haben zudem herausgefunden, dass Paare, die sich über eine Dating-App kennengelernt haben, glücklicher sind als andere Paare. Das liegt daran, dass Nutzer*innen von Dating-Apps oft zielgerichteter sind und schneller verbindlich werden, erklärt dazu die Paartherapeutin Lisa Fischbach.



Person, die ihr Gesicht versteckt_Haende vor dem Gesicht_Frau liegt auf dem Boden_Unsicherheit_Liebe_Anthony Tran_myGiulia
Foto: Anthony Tran / unsplash

Wie nutzen wir also Online-Dating, damit es eine Chance für die Liebe ist, statt Frust und Burnout zu verursachen? Dafür dürfen wir uns daran erinnern, dass Liebe und Verbindung menschliche Grundbedürfnisse sind. Im Kern sehnen wir uns alle nach Liebe. Diese Sehnsucht ist Teil unserer menschlichen Existenz. Sie kommt durch den Boom der Dating-Apps zum Ausdruck, aber auch durch den Hype rund um Dating-Shows und Rom-Coms. Im Buchhandel ist der Liebesroman das am stärksten wachsende Genre. Auch der Erfolg von Dating- und Beziehungscoaches, die Menschen auf dem Weg zur Liebe unterstützen sollen, ist Ausdruck dieser Sehnsucht. Einer dieser Coaches ist der Brite Matthew Hussey, der auf YouTube über 3 Millionen Abonnent*innen hat und mit seinem Buch „Get the guy“ einen New York Times-Bestseller geschrieben hat. Der Kanadier Mark Groves erreicht mit seinem Instagram-Account createthelove über 1 Million Menschen. Jilian Turecki, Beziehungscoachin aus New York, hat auf Instagram sogar fast 2 Millionen Follower*innen.



„Zum ersten Mal in der Geschichte sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir einander nicht mehr brauchen.” - John Wineland (Trainer für spirituelle Intimität)


Warum aber finden wir so schwer zueinander?


Wir haben also tief in uns eine Sehnsucht nach Liebe. Und wir, das sind nicht gerade wenige: Aktuell leben über 7,5 Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Davon sind allein in Österreich mehr als 2 Millionen Single, in Deutschland über 22 Millionen. Ausreichend potenzielle Partner*innen eigentlich – und doch scheint es uns so schwer zu fallen, zueinander zu finden. Gerade Frauen, die mitten im Leben stehen, gut gebildet und finanziell unabhängig sind, scheinen es nicht leicht zu haben, einen passenden Menschen an ihrer Seite zu finden. Die US-Anthropologin Marcia C. Inhorn weiß aus ihren Forschungen, dass viele Frauen nach einem verfügbaren und gebildeten Partner für eine gleichberechtigte Beziehung suchen – diesem jedoch nicht begegnen. Inhorn geht davon aus, dass es sich dabei um ein globales Phänomen handelt. Warum aber ist das so? Liegt es daran, dass wir heute in vielen Fällen nicht mehr aufeinander angewiesen sind? Weil viele von uns auch ohne Partner*in finanziell abgesichert sind und es uns gut geht? „Zum ersten Mal in der Geschichte sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir einander nicht mehr brauchen“, sagt dazu der US-Amerikaner John Wineland, der Männergruppen leitet und Trainer für spirituelle Intimität sowie sexuelle Polarität ist. „Frauen bekommen ohne Männer Babys, sie sind finanziell unabhängig und Männer werden bald ihre sexuellen Bedürfnisse über virtuelle Pornos durch ein Headset befriedigen können.“ Dieser Umstand würde aber auch die Möglichkeit eröffnen, uns aus anderen, schönen Gründen ganz frei zu wählen, so Wineland.



Zwei Personen, die nebeneinander sitzen_Zuneigung_Kennenlernen_Liebe_Paar_Beziehung_Schwarz Weiß Foto_Tron Le_Unsplash_myGiulia
Dass wir bei der Partnersuche heute eine Wahl haben, ist ein Privileg, ein Luxus, den viele Menschen in weiten Teilen dieser Erde nach wie vor nicht haben. (Foto: Tron Le/unsplash)


Slow Dating im Vormarsch


Dass wir bei der Partnersuche heute eine Wahl haben, ist ein Privileg, ein Luxus, den viele Menschen in weiten Teilen dieser Erde nach wie vor nicht haben. Wir können das Potenzial dieses Privilegs voll ausschöpfen, indem wir mit Intention Beziehungen kreieren, so wie wir sie uns vorstellen. In einem ersten Schritt dürfen wir dafür auch die Datingwelt ganz bewusst mitgestalten. John Wineland betont, dass der Frust beim Dating oft durch die damit verbundenen Erwartungen entsteht. Aus diesem Grund ist der Ansatz, den er in seinen Programmen lehrt, Dating als ein Praxisfeld zu sehen, einen Erfahrungsraum, in dem wir mehr über uns selbst herausfinden, unser Nervensystem beobachten, alte Muster erkennen, sie durchbrechen, Neues integrieren und so wachsen können.


Das persönliche Wachstum rückt auch eine neue Dating-App in den Fokus. Der Autor und Poetry-Star Yung Pueblo hat Anfang des Jahres angekündigt, dass er Ready gegründet hat, einen transformativen Raum für Beziehungen und einen Ort für Wachstum. Die neue Dating-Plattform, die gerade noch entwickelt wird, soll sowohl für ernsthafte Singles als auch für wachstumsorientierte Paare geeignet sein. „Das Ziel von Ready ist es, authentische Verbindungen im digitalen Zeitalter zu fördern“, sagt Pueblo. Zahlreiche Interessierte sind bereits auf der Warteliste, um als Erste informiert zu werden, sobald Ready auf den Markt kommt. Auf Instagram hat Ready schon 21.000 Follower*innen, die dort preisgeben, was sie sich von der neuen App wünschen. Die Kommentierenden hoffen, dass Ready Menschen miteinander verbindet, die ähnliche Werte, eine ähnliche Sprache der Liebe und ein Bewusstsein über ihren Bindungsstil haben. Viele wünschen sich auch, Menschen kennenzulernen, die bereits an ihren inneren Themen und Verletzungen gearbeitet haben. Mit diesen Perspektiven steht Ready neben der Dating-App Once, die im Gegensatz zu anderen Apps nur einmal am Tag zwei Menschen verbindet und ein Pionier im Slow Dating ist, für eine Entwicklung, die zuversichtlich stimmt. Auch eine Bumble-Befragung bestätigt diesen Trend. Demnach achtet fast jeder zweite Single in Deutschland (46 Prozent) beim Dating mittlerweile mehr auf Qualität statt Quantität und praktiziert Slow Dating.



Intensiver Kuss_Schwarz Weiß Foto_Zuneigung_Liebe_Koerperliche Naehe_Dating_Juliette F_Unsplash_myGiulia
Foto: Juliette F/unsplash

Dating als Lernfeld


Bei all der Technik dürfen wir nicht vergessen, dass wir es auch selbst in der Hand haben, wie wir die Dating-Welt erleben. Wir haben immer auch die Option, den Fokus weg von den frustrierenden Dingen dorthin zu richten, wo unser Handlungsspielraum liegt. Wenn wir diesen Handlungsspielraum erkennen, dann kann Dating ein kraftvolles Lernfeld sein. Ein Feld, das wir ganz bewusst mitgestalten können. Denn alle Menschen, die online daten, kreieren die Dating-Welt mit. Wir haben also zwei Möglichkeiten: Wir können uns darüber beklagen, was alles nicht funktioniert und wie viele Menschen da draußen nicht bereit sind für das, was wir uns wünschen – und unser Herz verschließen. Oder wir können vorangehen, uns bewusst öffnen und das initiieren und einladen, was wir uns auch vom Gegenüber wünschen: Klarheit, Transparenz, Wertschätzung, Offenheit und Empathie. Ebenso wie Selbstkenntnis und ein Bewusstsein dafür, ob es sich gerade gut anfühlt, auf einer App zu sein – oder nicht. Wenn wir das ins Online-Dating reinbringen, wonach wir uns sehnen, dann machen wir uns selbst sichtbar – für die Menschen, die genau dafür empfänglich sind. Dabei ist es auch völlig ok, wenn das nur wenige sind. Denn eigentlich braucht es ohnehin nur einen Menschen, wenn wir uns eine monogame Beziehung wünschen.


Online-Dating ist ein Weg, damit dieser eine Mensch in unser Leben kommen kann. Aber es ist bestimmt nicht der einzige Weg. Wir können auch in jedem Moment auf der Straße, im Bus, im Büro, in der Bar oder im Supermarkt jemandem begegnen, der unser Herz berührt. Wir wissen nicht, wann, wie und wo es passieren wird. Wir können nur darauf vertrauen, dass es passieren wird – und uns immer wieder bewusst für die Liebe öffnen.

Auch dann, wenn wir zur Sicherheit lieber zumachen möchten, um nicht (wieder) verletzt zu werden. Unsere Dating-Erfahrungen können wir in der Zwischenzeit nutzen, um das Vertrauen in uns selbst zu stärken, die Verbindung zu uns selbst zu verbessern und uns in unserer Öffnung zu üben – für unser Gegenüber und für die Möglichkeit, dass es da draußen jemanden gibt, der genau das Gleiche möchte wie wir.


 

Literaturtipps



Buchcover-dating-eine-kulturgeschichte

Moira Weigel

btb Verlag













Buchcover the way forward

Yung Pueblo

Andrews McMeel Publishing













Buchcover get the guy Matthew Hussey

Matthew Hussey

Harper












KAUF INFORMATION​


Bei Interesse kannst die Produkte und Bücher direkt über die Links von hier aus kaufen. Wir erhalten dafür eine Provision. Solltest du doch lieber bei deinem Buchhändler ums Eck einkaufen wollen, sind wir dir natürlich nicht böse!


 

Unsere Autorin


Autorin_Katja Horninger_Portrait_natuerliches Bild_Marianne Laemmel_myGiulia
Foto: Marianne Lämmel

Katja Horninger ist Kommunikationsmensch aus Leidenschaft. Nach ihrem Studium der Kommunikationswissenschaften war sie viele Jahre in der PR tätig. Heute arbeitet sie als freie Autorin, Kommunikationsbeauftragte an der Uni, Porträtfotografin sowie Yoga- & Polarity-Lehrerin. Als ewig Lernende liebt sie es, in ihrem vielfältigen Tun zu erforschen, wie Worte uns berühren und bewegen, wie wir uns durch die Sprache mit anderen verbinden und wie wir unsere Innenwelt über Bilder und unseren Körper zum Ausdruck bringen können. Katja lebt in Wien.

Unterstütze unser Magazin!

Das myGiulia Magazin ist unabhängig und werbefrei. Wir glauben an wertvolle journalistische Arbeit und möchten unsere Inhalte weiterhin allen frei zugänglich machen. Dafür brauchen wir deine Unterstützung. Hilf uns gemeinsam nach einer gleichberechtigten Welt zu streben, in der weibliche Bedürfnisse keine Tabus mehr sind, wertvolle Inhalte geschätzt werden und wir uns solidarisch verbinden. Mehr Infos

bottom of page