INTERVIEW: CHRISTINA KAISER
Wenn es um Gleichberechtigung der Geschlechter geht, dann sprechen wir meist von wirtschaftlichen oder gesellschaftspolitischen Aspekten wie Chancengleichheit, dem Gender Pay Gap, dem Gender Pension Gap oder Frauenquoten. Aber was bitte ist der Pleasure Gap?
Ein Thema in der Frauenbewegung, das langsam immer stärkere Aufmerksamkeit bekommt und sich als sehr wichtiger Teil des großen Gleichberechtigungspuzzles entpuppt, ist die weibliche Sexualität. Frauen soll es möglich werden, ihre Lust neu zu entdecken, eine Sexualität, die von den männlichen Normen befreit, Erotik und den Umgang damit neu definiert. Kurz: ein Empowerment der weiblichen Sexualität.
Die Diskussion und Wahrnehmung weiblicher Sexualität findet im Rahmen von sexueller Aufklärung und feministischem Diskurs immer häufiger statt. Auch die Offenheit, über die eigene Sexualität und sexuelle Gesundheit öffentlich zu sprechen, nimmt sehr stark zu. Diese Offenheit wiederum verbindet sich stark mit dem wachsenden gesellschaftlichen Interesse am Konzept Self-Care, Wohlbefinden und weiblicher Gesundheit.
So findet Frau vor allem über Instagram Workshops, die weibliche Lust in den Mittelpunkt stellt, Yoni-Seminare, Wellness-Retreats, die Orgasmen versprechen – sogar goop hat dem Thema im Netflix Goop.lab eine eigene Serie gewidmet.
Wir wissen jedoch immer noch vieles nicht über Sex – und insbesondere über die Sexualität von Frauen. Viele Aspekte weiblicher Sexualität sind nach wie vor von Mythen und Missverständnissen umhüllt, und selbst diejenigen von uns, die glauben, über ihren eigenen Körper Bescheid zu wissen, glauben weiterhin an einige davon. Beeinflusst durch eine auf Männer ausgerichtete Sexindustrie, sind das öffentliche Bild und die gesellschaftlichen Normen fest in unseren Köpfen verankert.
Langsam beginnen wir darüber zu sprechen, zu enttabuisieren, uns zu informieren, die weibliche Anatomie besser zu erforschen, unsere Chancen zu erkennen, Neues auszuprobieren und uns zu öffnen für eine neue Sinnlichkeit, Lust und sexuelle Befriedigung à la femme.
Wir haben uns bei Bibi Brzozka, Trainerin für weibliche Lust & Intimität, darüber informiert, warum die Auseinandersetzung mit diesem Thema so wichtig ist, was sich verändern soll und welchen Beitrag jede von uns dazu leisten kann.
Wenn du deine Klient*innen und Frauen um dich herum beobachtest, woran fehlt es deiner Meinung nach im Wesentlichen bei der weiblichen Sexualität im Jahre 2022?
Was fehlt, ist Weiblichkeit und all die Qualitäten, die das Feminine mit sich bringt. Ich denke, wir sind einfach so konditioniert, außerhalb des Schlafzimmers maskulin zu agieren, dass es uns dann auch beeinflusst, wie wir uns im Schlafzimmer verhalten. Weibliche Qualitäten, die uns fehlen, sind zum Beispiel: entschleunigt sein, präsenter sein, sinnlicher sein, alle unsere Sinne anzapfen, anstatt hauptsächlich in unserem Kopf und unserem Verstand zu sein.
Wir sind die ganze Zeit in einem solchen Tun-Modus, dass wir kaum mehr wissen, wie wir wirklich empfangen sollen. Mir fehlt also diese besondere Qualität weiblicher Energie und das führt dazu, dass Sex im Allgemeinen sehr männlich ist.
Ein weiterer Punkt ist, dass sich die Menschen, was Sexualität betrifft, hauptsächlich über Pornografie bilden, die von Männern und für Männer produziert wird. Die meiste Pornografie ist also sehr männlich, mit viel Action und einem sehr klar orientierten Ziel.
Wie sollte für dich moderne Sexualität aussehen, die Verbindung zwischen Körper und Geist, die du dir für alle wünschen würdest?
Theoretisch haben wir zwei große Geschlechtsorgane. Eines ist das Gehirn und eines ist der Körper. Wir benutzen in unserer Gesellschaft hauptsächlich unser Gehirn, und da kommt zum Beispiel Pornografie ins Spiel. Ich kann mir einen guten Erotikfilm ansehen – ohne mich anzufassen und ohne irgendeinen Teil meines Körpers zu berühren – und kann einen vollen Orgasmus haben, während sich meine Vagina zusammenzieht. Denn dies ist eine rein mentale Stimulation und das Gehirn sendet das Signal nach unten zu den Genitalien.
Aber es gibt da einen kniffligen Teil, nämlich: Unser Geist ist unersättlich. Wenn sich unser Geist an etwas gewöhnt, langweilt er sich und wird nicht mehr angeregt. Wir müssen also ständig nach neuen Reizen suchen. Außerdem bringen wir so unserem Körper bei, auf eine bestimmte geistige Stimulation zu reagieren.
Ich stelle fest, dass wir die Verbindung zu unserem Körper verloren haben, nicht nur in der Sexualität, sondern auch im Alltag.
Um dich mit dem Körper zu verbinden, musst du innehalten, dich verlangsamen und deine Aufmerksamkeit auf die Empfindungen im Körper und auf die Gefühle richten. Unser Körper ist ein riesiges Sexualorgan. Das Schöne daran ist, dass der Körper seine eigene Weisheit hat, dass dem Körper nicht langweilig wird. Denn, je mehr du damit arbeitest, desto mehr Sensibilität wird da sein, desto mehr orgasmische Energie kann entstehen.
Theoretisch sollte sich also alles um unseren Körper drehen. In der Praxis sind wir aber eigentlich hauptsächlich in unseren Köpfen und viele Menschen brauchen Pornografie oder Gedanken über Pornografie, um angeregt zu werden. Ich könnte dich nur mit einer Feder berühren und du kannst einen Orgasmus haben. Je entspannter wir sind, desto empfänglicher für Lust sind wir, je angespannter wir sind, desto empfänglicher für Schmerz sind wir. Um überhaupt körperliche Lust zu erleben, müssen wir uns Zeit nehmen, uns zu entspannen.
Sex dauert im Schnitt sechs bis acht Minuten. Aus diesem Grund treten die meisten von uns nicht einmal in diese entspannten Zustände ein, und wir müssen uns folglich stark stimulieren, um überhaupt etwas zu fühlen.
Was können wir tun, um diese Nicht-Verbundenheit mit unserem Körper zu ändern? Gibt es ein Ritual, das du empfiehlst?
Ja, es gibt da ein paar einfache Schritte: Ich würde mit einer bewussten Selbstbefriedigungs-Selbstliebe-Praxis beginnen, die du tatsächlich zuerst in den Kalender einplanen musst: einmal pro Woche für eine Stunde. Nehmt euch also wirklich bewusst Zeit dafür, für euch selbst. Auf diese Weise könnt ihr euch vorbereiten und das Ritual in angemessener Weise ernst nehmen, so wie du ja auch die Einladung zu einer Hochzeit in deinem Kalender planen und dein Outfit vorbereiten würdest.
Lasst uns die gleiche Aufmerksamkeit auch auf uns richten, uns selbst ehren, uns selbst lieben!
Stellt sicher, dass ihr eure eigene Privatsphäre habt. Du kannst ein Bad nehmen, Atemübungen machen, meditieren oder was auch immer dich entspannt, damit du entschleunigen kannst. Sei einfach wirklich präsent, fühle dich in deinen Körper hinein und gib dir wirklich eine Stunde Zeit, um dich zu erkunden, ohne dass du zu einem Orgasmus kommen musst. Berühre dich nicht nur an den Genitalien, sondern berühre den ganzen Körper. Sei präsent, von Moment zu Moment, mit allen Empfindungen im Körper. Genieße diesen schönen, sinnlichen Raum, den du geschaffen hast, mit langsamer, sinnlicher Musik, vielleicht Kerzen oder Düften. Die Aktivierung aller Sinne hilft, die Sprache des Körpers zu hören, anstatt im Kopf zu bleiben. Es wird also eine schöne, sinnliche, sexy Praxis und gleichzeitig ein Ritual, um deinen Körper zu ehren und dich selbst zu lieben.
Wie könnten wir deiner Meinung nach junge Mädchen inspirieren, ihnen diese neue, weibliche Sexualität beibringen?
Alles fängt bei uns an: Du musst zuallererst deine eigene Sexualität erforschen und darin selbstbewusst werden, du musst dich und deinen Körper spüren und du solltest verstehen können, wie die Anatomie der Erregung funktioniert. Man sollte ein Gefühl dafür haben, wie wir uns öffnen können. Erst dann kann man authentisch und ein Vorbild für junge Mädchen sein. Kinder fühlen ja genau, was authentisch ist und was nicht. Ich sage allen Müttern, die mit mir arbeiten:
„Fangt an, euch selbst zu erforschen, und dann könnt ihr eure Töchter in eurer eigenen Sprache unterrichten!"
Es beginnt also definitiv hier und jetzt, mit unserer Generation. Wir haben nicht wirklich Zeit zu warten, weil Pornografie immer mehr verfügbar wird. Jedes Kind, das Pornografie ausgesetzt ist, ist im Durchschnitt erst 11 Jahre alt! Da fangen sie also an, sich bereits Pornos anzuschauen.
Ich denke, viele Frauen in meinen Kursen sind in den Dreißigern und Vierzigern und viele von ihnen sind Mütter. Eines der ersten Dinge, die sie teilen, ist, dass sie durch ihren eigenen Durchbruch endlich das Wissen, das Verständnis und die Sprache erlangt haben, um mit ihren Kindern darüber zu sprechen.
Du bietest als Expertin für weibliche Sinnlichkeit und Erotik Workshops an. Was kann man von deinen Workshops erwarten?
Ich denke, es hängt sehr stark davon ab, wo sich die Menschen auf ihrer eigenen Reise befinden. Die Leute kommen in unterschiedlichen Phasen zu mir: Manche kommen, weil sie super neugierig sind. Sie haben einen Artikel gelesen, sie haben davon gehört. Sie haben keine Probleme zu lösen, aber sie wollen sich mit dem Thema auseinandersetzen, Neues lernen. Sie wollen die Dinge auf die nächste Ebene bringen und sie wollen erkunden.
Manche Leute kommen, weil sie Probleme haben und nie einen Orgasmus hatten, oder weil sie einige Herausforderungen in ihrer Beziehung und dadurch keinen Sex mehr haben. Und manchmal kommen Menschen, um zu heilen, weil sie eine Vorgeschichte von sexuellen Traumata haben. Ihre Sexualität wird vollständig unterdrückt.
Einblicke in Bibi Brzozkas Workshops | Tulum, Mexiko | Quelle: Instagram
Es hängt daher sehr stark davon ab, wo die Reise beginnt. Wenn du eine Vorgeschichte von sexuellem Missbrauch und Trauma hast, kann die Reise länger dauern und wird langsamer und sanfter sein. Wenn du mit deiner Sexualität selbstbewusster bist, sie aber auf die nächste Stufe bringen möchtest, dann ist es etwas anders.
Ich bin ziemlich gut darin, eine „From Zero to Hero Journey“ zu kreieren. Meine Kund*innen können viele Erkenntnisse und Befreiungen erwarten. Viele Menschen sind überrascht, dass sie durch einige der Übungen etwas erkennen, dessen sie sich nicht vollständig bewusst waren.
Zum Beispiel ihre in der Kindheit gesäte Unsicherheit in Bezug auf ihr Körperbild. Oder vielleicht hatten sie ein falsches Verständnis von Selbstbefriedigung, das aus der Schule oder Religion stammt, und es sitzt wirklich so tief in ihrem Unterbewusstsein, dass sie sich dessen nicht einmal bewusst waren. Es ist so schön zu sehen, sich zu entdecken und dann zu beginnen, sich wirklich mit verschiedenen Teilen des Körpers zu verbinden.
Manche Frauen haben zum Beispiel behauptet, dass sie ihre Brüste nicht mögen, dass ihre Brüste nie empfindlich waren oder dass nichts passiert, wenn ihre Brüste stimuliert werden. Plötzlich bekommen diese Frauen Brustorgasmen!
Du kannst erwarten, dass viele verschiedene Dinge passieren, je nachdem, wo du dich auf deiner Reise befindest und je nachdem, wie engagiert man auch ist. Weil viele Leute sich ändern wollen, aber eher wenige wirklich hartnäckig an der Praxis festhalten wollen. Ich vergleiche gerne Sexualität mit Ritualen aus der körperlichen Fitness.
Wenn du diese Sensibilität wirklich aufbauen willst, wenn du dieses innere erotische Leuchten kultivieren willst, dann muss es eine Praxis dafür geben, du musst diesen Muskel zuerst aufbauen und dann regelmäßig trainieren.
Wir alle werden von ähnlichen Dingen herausgefordert. Aber wenn wir unsere Komfortzone verlassen, beginnen die Dinge zu passieren. Das ist sehr befreiend. Ich sage eigentlich allen Frauen, dass es zuerst bei ihnen selbst anfängt: „Mach lieber zuerst einen Kurs, in dem es um dich geht und um die Rückeroberung deiner eigenen Sexualität, bevor du es mit dem Partner/der Partnerin besprichst." Ich vergleiche es gerne mit einem Duett zweier Geigenspieler. Wer ein Duett spielen will, muss zuerst lernen, wie man Geige spielt. Sobald man das eigene Instrument beherrscht, kann man im Duett zu spielen beginnen. Wenn zwei Musiker*innen kommen und keine*r von ihnen Geige spielen kann, wird es sehr schwer, in einem Duett zu spielen.
Gibt es Literatur, die du uns empfiehlst?
Ich biete ein kostenloses Meditationsangebot – „Erotic glow” – auf meiner Website an, das ist ein guter Einstieg. Ein fantastisches Buch, das ich persönlich sehr mag, ist „The Anatomy of Woman's Arousal“ von Sherry Winston.
Anmerkung der Redaktion: Dieser wurde erstmals im März 2022 veröffentlicht und im Februar 2024 aktualisiert und überarbeitet.
Im Gespräch mit
Bibi Brzozka ist ehemalige Finance & Banking Managerin, die mit 35 Jahren begann, sich aus privatem Interesse in das Thema Sexualität zu vertiefen und heute eine weltweit gefragte Expertin zu den Themen weibliche Sexualität, Sinnlichkeit & Lust ist.
Mittlerweile hat sie ihre Praktiken mit rund 15.000 Menschen auf der ganzen Welt geteilt. Durch ihre Expertise hat Bibi über 300 Vorträge auf Konferenzen, Festivals und Online-Gipfeln gehalten. Sie teilt ihr Wissen in zahlreichen On & Offline-Workshops mit ihren Kund*innen weltweit.
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