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Kein normaler Zirkus

TEXT & FOTOS: VIKTÓRIA KERY-ERDÉLYI


Letzte Woche noch Daumenakrobat*in am Handy, diese Woche schon Zirkusartist*in: Wer sich auf Barbara Rosenbergers Ferienworkshop „Circusglück“ einlässt, erlebt Spaß und Magie – und wächst. Wir tauchten für einen Tag ein.

 


Foto Circus Gabor Barbely I Sommercamp für Kinder I Zirkus I Vorhang auf I myGiulia
Copyright: Gabor Barbely

Das Zirkuszelt hatte sozusagen die Ärmel hochgekrempelt: Die Planen waren ein Stück weit aufgerollt, damit ein Lüftchen durchziehen konnte. Der Augusttag war eigentlich dafür gemacht, um in den kühlen Herrensee zu hüpfen. Seinen Lockruf wollte an dem Freitagmorgen aber niemand hören, ab dem Frühstück lag flirrende Aufregung in der Luft. Seit Tagen arbeiteten die Kinder und Jugendlichen an der Show, die ihre Eltern, Großeltern, Geschwister und begeisterte Zaungäste wenige Stunden später zum Staunen bringen sollte.


Ich wollte Mäuschen spielen an diesem besonderen Tag, die Nachwuchsartist*innen, die Zirkusdirektorin und ihre Assistent*innen beobachten und die Magie des Ferienworkshops namens „Circusglück“ in der Gemeinde Litschau im niederösterreichischen Waldviertel inhalieren. Es sei schön zu sehen, wie schnell Kinder etwa das Jonglieren oder das Einradfahren lernen, aber noch schöner zu erleben, wie sehr ihre Erfolge sie stärken und wachsen lassen, hatte mir Barbara Rosenberger im Vorfeld erzählt.

 


Foto von Viktória Kery-Erdélyi I Sommercamp Für Kinder im Zirkus I Bühne frei I Sport und Bewegung I Freude I myGiulia


Zirkuszelt am Herrensee


Die heutige Zirkusdirektorin begann ihre Laufbahn mit einer Ausbildung in klassischem Tanz und Akrobatik. Nach Jahren am (Tanz-)Theater verliebte sie sich in den Zirkus, verbrachte viele Jahre in der Manege und gründete Ende der 1980er-Jahre das artistische Ensemble „Teatro Vagabondo“. Eine Vielzahl an eigenen Produktionen im In- und Ausland folgten, heute arbeitet sie vorrangig als Choreografin, Schauspielerin und Puppenspielerin. Vor gut 20 Jahren startete Barbara Rosenberger dann auch ihr künstlerisches Projekt für Kinder und Jugendliche: eine magische Verbindung aus Zirkus, Theater und Pantomime. 2020 kaufte sie sich ein eigenes Zirkuszelt mit 28 Metern Durchmesser und Zirkuswägen, um unabhängig und selbstständig ihre Visionen verwirklichen zu können: und zwar am Herrensee in Litschau, wo sich im Sommer auch Bade-, Schrammelklang- und Hin & Weg-Theaterfestivalgäste die Klinke in die Hand geben.

 



Vorfreudeschwanger folgte ich also Barbara Rosenbergers Einladung, „ihre“ Zirkuskinder in Litschau einen ganzen Tag lang zu erleben. Ab dem Frühjahr werden Projekttage für Schulen angeboten, der Sommer ist jedoch für die „Circusglück“-Ferienworkshops reserviert. Sie richten sich an Anfänger*innen und Fortgeschrittene zwischen 8 und 16 Jahren. Immer sonntags treffen die angemeldeten Kids ein, der Höhepunkt der Woche ist jedes Mal die Präsentation am Freitag: eine Show aus dem Gelernten.


Mein Besuch an diesem Augustmorgen ist angekündigt, ich schleiche dennoch auf leisen Sohlen ins Zelt. Die letzten Proben für den Auftritt sind in vollem Gange, die Sesselreihen stehen bereits stramm in Reih und Glied, Bälle, Keulen, Ringe und Einräder warten auf ihren Einsatz. Als ich die vielen Schuhe sehe, streife ich auch meine Sneakers ab; kein Steinchen sollte in die Manege kommen, das könnte die barfüßigen Artist*innen verletzen, höre ich später die Erklärung. Ich bin bereits in das Geschehen vertieft, da tippt mir Barbara auf die Schulter. „Nicht schrecken: Es ist der letzte Durchgang vor der Show, da muss ich mit den Kindern manchmal strenger sein“, schmunzelt sie. Ich lausche ihr an diesem Tag viele Stunden: Ihre Anweisungen sind klar, manchmal verleiht sie ihnen mit einer Pause oder einem fokussierten Blick Nachdruck, die Geduld verliert die zarte Frau mit den funkelnden Augen bis zum Abend kein einziges Mal.


„Was ist das oberste Gebot hinter der Bühne?“, fragt sie die Gruppe. Gut 30 Hände gehen in die Höhe, ein Kind darf es sagen: „Nicht reden.“ – „Genau! Ihr seid hinter dem Vorhang unsichtbar, aber das Publikum hört euch“, sagt Barbara. Keine mahnenden Worte ohne nachfolgende Motivation. „Super wird das!“, zwinkert sie den Kids zu.

 


„Hier muss niemand etwas Bestimmtes sein. Im Zirkus dürfen alle sie selbst sein – mit ihren Besonderheiten und Stärken.“ – Zirkusassistentin Pia

 

Zirkus als Ferienjob


Während Schwiegersohn Mfillinge, liebevoll Filli genannt, die Vormittagsjause serviert, treffe ich bei den gelb-roten Zirkuswägen, in denen die Kids übernachten, Caro, Ronja und Pia – sie sind diese Woche Barbaras Zirkusassistentinnen, das ist ihr Ferienjob. Zu den Dienstältesten zählt Caro; die Mathematik- und Ethik-Studentin war selbst mit zwölf Jahren das erste Mal Teilnehmerin, heute ist sie Betreuerin. „Ich konnte von Anfang an hier schnell Freundschaften schließen, jetzt bin ich seit zehn Jahren durchgehend dabei“, schwärmt die 21-jährige Wienerin. Barbaras Zirkus wurde auch für Pia vor gut zehn Jahren zum ständigen Lebenselixier. „Hier muss niemand etwas Bestimmtes sein. Im Zirkus dürfen alle sie selbst sein – mit ihren Besonderheiten und Stärken und die finden wir genau hier raus“, beschreibt Pia, die aktuell ein Gesundheits- und Krankenpflege-Studium in Wien macht.


Die Interessen von Assistentin Ronja sind breit gefächert: „Vielleicht werde ich Hebamme, vielleicht habe ich eines Tages einen Bauernhof oder ich gehe zum Bundesheer“, zählt die 17-Jährige gelassen auf. Ihre jüngeren Geschwister sind neun und zwölf Jahre – und beide Teilnehmer*innen des Workshops. Sie mag das familiäre Miteinander bei „Circusglück“. „Für mich fühlt es sich gar nicht wie Arbeit an“, sagt Ronja. Obwohl es gelte, sich an akribisch durchdachte Abläufe zu halten, gleiche kein Tag dem anderen, findet sie. Nach dem täglichen Zirkustraining folgen abendliche Highlights wie Fußballspielen, Film- oder Grillabende. Selten käme es vor, dass ein Kind Heimweh hat, „und meistens können wir es dann mit Spielen oder Vorlesen ablenken“, sagt Caro.

 


Foto von Viktória Kery-Erdélyi I Die Zirkusassistentinnen Ronja, Caro und Pia I Sommercamp für Kinder im Zirkus I Bühne frei I Bewegung und Freude I myGiulia
Die Zirkusassistentinnen Ronja, Caro und Pia

 

„Kunststücke zu trainieren, bis sie gelingen und sie aufzuführen stärkt das Selbstvertrauen der jungen Teilnehmer*innen ganz stark. Zudem basiert Zirkus immer auf Teamarbeit. Bei ,Circusglück‘ lernen die Kinder genauso Rücksicht aufeinander zu nehmen und umsichtig zu agieren.“ – Zirkusdirektorin Barbara Rosenberger

 


Manege frei!


Als ich wieder bei den Proben zusehe, gesellt sich ein Mädchen zu mir: „Wirst du etwas über uns schreiben?“, fragt es und verrät mir, dass es Lara heißt. Als ich bejahe, strahlt Lara übers ganze Gesicht. „Juchu!“, ruft sie und erzählt mir, dass sie die größte Freude an Bodenakrobatik hat. „Was soll ich sonst noch schreiben?“, frage ich. „Schau dir die Show an, dann wirst du es wissen!“, lacht sie und flitzt auch schon hinter die Bühne.


Das Mittagessen steht bevor, Barbara nützt einmal mehr die Chance, positive Gedanken in die jungen Köpfe zu pflanzen: „Ich weiß, ich kann mich auf euch verlassen: Ihr seid gescheite Kinder. Wenn ihr mal den Faden verliert: Kein Problem! Einfach weitermachen, einfach weitertanzen.“


Nach dem Mittagessen beginnt die äußerliche Verwandlung; aus großen Kisten kommen Kostüme zum Vorschein, Make-up und Haare machen die Kids sich gegenseitig selbst – losgelöst von Altershierarchien.

 


 

Und dann folgt der große Moment: Die Familien, die die meisten Ferienzirkuskids seit gut fünf Tagen nicht gesehen haben, treffen ein. Große Freude, viele Umarmungen – und im Nu ist jeder Platz unterm dunkelblauen, mit Sternen verzierten Zeltdach besetzt. Kameras und Handys werden gezückt, gespannte Stille tritt ein. Die „Yiddish Mazurka“ erklingt, ein Mädchen schiebt festlich einen Drehorgelkasten über die Manege, aus dem ihre jüngere Partnerin mit Zylinder am Kopf zur Begrüßung winkt – und es geht los. Bunte Schleifen, Ringe, Keulen und Co. fliegen durch die Luft, die Kids sind hochkonzentriert, die Münder mancher Eltern und Großeltern bleiben staunend offen. Es darf auch gelacht werden, pointierte Sketches gehören zum Programm, sollen doch möglichst viele Talente ausgeschöpft werden.


„Unsere Abschlussgala ist das strahlende Finale einer gemeinsamen fröhlichen, intensiven und künstlerischen Woche. Jedes Kind kann sich zu Beginn Requisiten aussuchen, die ihm am besten gefallen und damit üben und trainieren“, beschreibt Barbara Rosenberger. „Heute dürfen die jungen Artist*innen ihre erlernten Kunststücke in einer gemeinsam erarbeiteten Choreographie, begleitet von Musik und Licht, in der Manege präsentieren. Theatrales und Pantomime ergänzen das artistische Programm – sparen Sie nicht mit Applaus!“, spornt sie in ihrer Begrüßungsrede die Gäste an. Das braucht die Zirkusdirektorin nicht zwei Mal zu sagen, die klatschenden Hände glühen.


Doch auch abseits der Showbühne passiert viel Bemerkenswertes. „Kunststücke zu trainieren, bis sie gelingen und sie aufzuführen stärkt das Selbstvertrauen der jungen Teilnehmer*innen ganz stark. Zudem basiert Zirkus immer auf Teamarbeit, bei ,Circusglück‘ lernen die Kinder genauso Rücksicht aufeinander zu nehmen und umsichtig zu agieren.“

 


„Wenn du siehst, wie viel die Kinder in ein paar Tagen lernen und wachsen, dann macht das einen unglaublich stolz und glücklich. Das Projekt ist sehr aufwendig in der Organisation, aber genau wegen dieser Momente machen wir das alles.“ – Victoria, Tochter der Zirkusdirektorin

 


Plaudern mit der Zirkusfamilie


Zur Aftershowparty am späten Nachmittag wechselt das Publikum mitsamt stolzer Jungartist*innen ins kleine Zirkuszelt nebenan. Dort, wo die Kids sonst täglich Frühstück, Jause und Co. einnehmen, genießen sie nun zur Feier des Tages Limo und Kuchen. Victoria, Barbaras Tochter, hat diesmal in der Nacht zuvor eine Mango- und einen Heidelbeerkuchen gezaubert. Victoria und Filli, der „Circusglück“-Hauptbetreuer und -Küchenchef, sind ein Paar; er ist im „realen“ Leben Lektor für Kiswahili an der Universität Wien und freischaffender Schriftsteller und Poet. Ihr 14-jähriger Sohn Salimin ist ein Tausendsassa: Er wirbelt selbst als Artist durch die Luft, assistiert seinen frischgebackenen Kolleg*innen bei der Show und im Anschluss serviert er den Festgästen duftenden Kaffee.

 


Zirkusdirektorin Barbara Rosenberger mit Familie I Foto von Viktória Kery-Erdélyi I Sommercamp für Kinder im Zirkus I myGiulia
Zirkusdirektorin Barbara Rosenberger mit ihrem Dreamteam: ihrer Familie – das sind Enkelsohn Salimin, Tochter Victoria, Schwiegersohn Mfillinge, Sohn Ben

 

Auch seine Eltern Victoria und Filli übernachten täglich bei den Kids in einem eigenen Zirkuswagen. „Schlafen kann man das nicht gerade nennen“, lacht Filli. „Mit einem Ohr horchen wir immer, ob alles in Ordnung ist, schließlich sind wir für die Kinder und die jungen Assistent*innen verantwortlich.“


„Zirkus ist unser Zuhause“, sagt Victoria, die noch weiße Bluse und Blazer vom Office trägt. Sie studierte Afrikanistik und arbeitet als Dolmetscherin bei einer Botschaft in Wien. Während der sommerlichen „Circusglück“-Wochen pendelt sie täglich nach Litschau und möchte das trotz allem Stress nicht missen, wie sie betont. „Die Abschlussshow ist auch für uns jede Woche sehr emotional“, beschreibt Victoria. „Wir fiebern jeden Freitag mit den Kindern mit. Wenn du siehst, wie viel sie in ein paar Tagen lernen und wachsen, dann macht das einen unglaublich stolz und glücklich. Das Projekt ist sehr aufwendig in der Organisation, aber genau wegen dieser Momente machen wir das alles.“

 


„Lernen und scheitern dürfen – das habe ich selbst im Zirkus gelernt.“ – Ben, „Circusglück“-Betreuer und Sohn der Zirkusdirektorin Barbara Rosenberger

 


Zum Team gehören auch ihre Schwester Olivia, die – wenn sie nicht gerade selbst am Theater arbeitet – sowohl das Office schupft, als auch im Zirkus tatkräftig unterstützt, und ihr Bruder Ben, selbst seit den Kinderschuhen ein Artist. Was die Kids am meisten fasziniert: spektakuläre Kunststücke mit einem Stab, dessen Enden in Flammen stehen. Dabei mag Ben das Rampenlicht gar nicht so gerne, verrät er, mehr Freude machen ihm das Training mit den „Circusglück“-Teilnehmer*innen bzw. die Arbeit hinter den Kulissen. Deswegen absolvierte er auch eine Lehre zum Maschinenbautechniker. „Das gibt mir die Möglichkeit, handwerklich kreativ zu sein. Ich verarbeite oft Schrott nachhaltig zu neuen Dingen.“ Im Zirkus gebe es ohnehin immer genug zu tun, sagt er, auch den Auf- und Abbau mache die Familie Jahr für Jahr selbst. Das, woran die Kids nun in den Ferien teilhaben dürfen, sei auch eine wichtige Lebensschule, findet Ben. „Lernen und scheitern dürfen – das habe ich selbst im Zirkus gelernt.“ Die Triebfeder für ihn und das „Circusglück“ ist das Credo seiner Mutter, der Zirkusdirektorin Barbara Rosenberger: „Wenn man etwas wirklich will, muss man es nur machen.“

 

Infos und Termine: www.circusglueck.at

Instagram: @circusglueck




 

Unsere Autorin


Portrait-Foto von Viktória Kery-Erdélyi © Vanessa Hartmann I Autorin I myGiulia
© Vanessa Hartmann

Viktória Kery-Erdélyi wurde in Ungarn geboren und kam mit zehn Jahren nach Österreich. Sie studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft. In ihrer Diplomarbeit befasste sie sich mit den Geschlechterverhältnissen bei Marivaux und stellte die Frage: „Sie sagen, Sie sind nur eine Frau, was wollen Sie denn Besseres sein?“ Nach 10 Jahren als Redakteurin bei der Tageszeitung Kurier wechselte sie als freiberufliche Journalistin in die Magazinbranche. Ihre Arbeit zeichnet sich durch viel Feingefühl aus. Viki sagt: „Jede Begegnung mit Menschen, die mir über ihr Leben erzählen und beschreiben, wofür sie brennen, ist ein Geschenk und ich bemühe mich, mit Demut vor dem geschriebenen Wort ihre Geschichten festzuhalten.“




 

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