TEXT: LISA REINISCH
Missbrauchsopfer. Rebellin. Model. Muse. Fotografin. Kriegsberichterstatterin. Mutter. Trinkerin. Ikone: Die Biografie der 1977 verstorbenen Amerikanerin Lee Miller ist fantastisch und fürchterlich zugleich – und wird dieses Jahr endlich verfilmt. Wobei sich die Frage aufdrängt, wie man diese Achterbahnfahrt von einem Leben je in eine Spielfilmlänge quetschen soll: Mit 19 wurde Miller als Model entdeckt, Anfang 20 ging sie nach Paris, wo sie als Muse, Geliebte und Schülerin des legendären Kunstfotografen Man Ray Freundschaften und Kollaborationen mit Künstlern wie Picasso, Jean Cocteau, Paul Éluard und anderen Größen des Surrealismus pflegte. Einige Lebensetappen später dokumentierte sie, als eine von wenigen Kriegsjournalistinnen, das Ende des 2. Weltkriegs und berichtete hautnah von den Grauen der Luftangriffe, Feldlazarette und Konzentrationslager. Danach kehrte sie zur Mode- und Portraitfotografie zurück und avancierte schlussendlich sogar noch zur Gourmetköchin.
Wenn die Filmbiografie „Lee” in die Kinos kommt (voraussichtlich 2022), werden sich viele wundern, warum sie noch nie von dieser schillernden Vorreiterin für weibliche Ambition und Selbstbestimmung gehört haben. Die Erklärung ist leider die übliche: Miller gehört zu den bahnbrechenden Frauen der Weltgeschichte, die wir erst vor Kurzem kennen und schätzen gelernt haben.
Tatsächlich verdanken wir es einem reinen Zufall, dass Miller nicht in Vergessenheit geraten ist: Erst in den 1980ern, einige Jahre nach ihrem Tod, fand ihr Sohn, Antony Penrose, auf dem Dachboden ihres Hauses über 60,000 Negative, 20,000 Drucke und Kontaktabzüge, sowie tausende Dokumente und Manuskripte – viele davon unveröffentlicht. Penrose beschloss, sich dem Lebenswerk seiner Mutter zu widmen und veröffentlichte 1988 ihre erste Biografie. 1995 folgte eine Dokumentation, 2005 ein Musical und 2019 ein historisch inspirierter Roman, jeweils mit Unterstützung des von Penrose gegründeten Lee Miller Archivs.
Was heisst hier „hollywoodreif”?
Als 2015 bekannt wurde, dass Kate Winslet die Hauptrolle in einer Verfilmung von Millers Leben spielen würde, wurde Millers Bekanntheitsgrad deutlich nach oben korrigiert. Doch danach wurde es einige Jahre ruhig um das Projekt, man vermutete, es wäre gescheitert. Dann, letzten Sommer, die heiß erwartete Ankündigung: Der Film würde irgendwann 2021 in Produktion gehen, und zwar unter der Regie der talentierten Ellen Kuras („Eternal Sunshine of the Spotless Mind”) und nach einem Drehbuch der ebenso talentierten Liz Hannah („Die Verlegerin”), basierend auf der Biografie von Millers Sohn. Ein vielversprechendes Ensemble, das darauf hoffen lässt, dass die „Tinseltown”-Version dieser äußerst komplexen Persönlichkeit dem Vorbild gerecht wird.
Die vielen Leben der Lee Miller als „hollywoodreif” zu beschreiben, wäre nicht richtig. Denn es ist genau umgekehrt: Erst jetzt, 44 Jahre nach ihrem Tod, ist Hollywood endlich reif für die Verfilmung dieser unglaublichen Story.
Eine großartige Explosion von Extremen
Winslet beschrieb Lee Miller einmal als „eine großartige Explosion von Extremen”. Ziemlich zutreffend für eine Frau, die in ihrem Leben mehr erlebt und überlebt hat, als man glauben möchte. Miller wurde 1907 in den USA geboren, als Tochter eines Ingenieurs und einer Krankenschwester. Sie war ein auffallend hübsches und smartes Kind, zeigte früh Interesse an Technik. Ihr Vater ermutigte sie, Dinge auseinanderzunehmen und wieder zusammenzubauen, um zu verstehen, wie sie funktionieren.
Doch Millers idyllische Kindheit nahm ein brutales Ende: Im Alter von nur sieben Jahren wurde sie von einem Cousin, der eigentlich auf sie aufpassen sollte, vergewaltigt – ein Trauma, das sie ein Leben lang prägte. Noch Jahre nach der Gewalttat musste sie schmerzhafte Behandlungen der Gonorrhoe über sich ergehen lassen, mit der sie bei dem Vorfall infiziert wurde. Laut Millers Sohn zerstörte dieses Erlebnis ihr Vertrauen in Autoritätsfiguren und führte zu Verhaltensproblemen. Als Teenager ließ sie sich kaum bändigen und flog von jeder Schule, auf die sie ging.
Befremdliches Detail: Millers Vater, ein Hobbyfotograf, machte mehrere Nacktaufnahmen von seiner Tochter im Teenageralter. Laut Penrose gab es jedoch nie Hinweise auf ein inzestuöses Verhältnis zwischen den beiden. In einem Interview mit der BBC deutete Penrose die Aufnahmen als Versuch, einer verunsicherten jungen Frau ihre eigene Makellosigkeit zu zeigen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Miller bereits früh fest dazu entschlossen war, ihrer Vergangenheit zu entkommen und sich Hals über Kopf in ein unkonventionelles Leben zu stürzen.
Schicksal und Schönheit
Mit 18 entfloh Miller dem vorstädtischen Poughkeepsie, wo sie geboren wurde, und ging nach Paris, wo sie Bühnenbild studierte. Schon ein Jahr später kehrte sie nach Amerika zurück und zog allein nach New York, wo sie Kurse für Kunst und Schauspiel belegte. Selbst in den „Roaring 20s” waren derartige Freiheiten für Frauen der Mittelschicht noch eher ungewöhnlich. Doch Millers Eltern ließen die Sprunghaftigkeit ihrer bildschönen Tochter durchgehen, wohl nicht zuletzt um ihr dabei zu helfen, die Schrecken der Kindheit hinter sich zu lassen.
Kurz nachdem sie in New York angekommen war, schlug das Schicksal wieder zu – diesmal zum Guten: Miller stolperte eines Tages auf dem Gehsteig und wäre beinahe überfahren worden, hätte nicht ein gewisser Condé Nast, seines Zeichens legendärer Verleger, sie aufgefangen. Millers Look – elfenhaft, mit Glockenhut – scheint Nast beeindruckt zu haben: Nur wenige Monate später landete sie auf dem Cover der amerikanischen und der britischen Vogue. Dies war der Startschuss für ihre erste Karriere, die eines Models. Doch schon bald wurde es Miller vor der Kamera langweilig, sie wollte mehr.
1929 reiste sie nach Paris, klopfte an die Studiotür eines der berühmtesten Fotografen seiner Zeit, Man Ray, und informierte ihn darüber, dass sie seine neue Schülerin sei. Man Ray wies sie erst mit der Erklärung ab, dass er überhaupt keine Schüler*innen annehme. Doch schließlich muss er seine Meinung geändert haben, denn die kommenden Jahre verbrachten die beiden zusammen – als Liebespaar und als Künstler*innen. Dabei lernte Miller nicht nur führende Persönlichkeiten der Avantgarde kennen, sie meisterte auch das Handwerk der Fotografie und spielte eine wesentliche Rolle in Man Rays Werk. So eng war ihre Zusammenarbeit, dass Kenner*innen vermuten, einige Fotos des großen Meisters wurden in Wirklichkeit von Miller aufgenommen.
Fest steht, dass Miller maßgeblich an der Erfindung einer fotografischen Technik beteiligt war, die die Surrealistische Fotografie nachhaltig prägen sollte – und für die Man Ray heute noch berühmt ist: die Solarisation (Verfremdung des fotografischen Bildes durch starke Überbelichtung). Einer Anekdote Millers zufolge entdeckte sie diese Technik, als ihr im Studio eines Tages, mitten im Belichtungsvorgang, eine Maus über den Fuß lief und sie erschrocken das Licht anknipste.
Die Rastlosigkeit immer im Gepäck
1932, nach drei Jahren in Paris, trennte sich Miller von Man Ray und kehrte nach New York zurück, wo sie ein eigenes Fotostudio eröffnete. Miller wurde zur gefragten kommerziellen Fotografin und zählte die US-Redaktion der Vogue und Mode- und Kosmetikmarken wie Elizabeth Arden, Helena Rubinstein und Saks Fifth Avenue zu ihren Kund*innen. Auch ihr künstlerisches Werk wurde gefördert: 1933 fand die erste und einzige Solo-Ausstellung ihrer Werke statt. Endlich stand sie auf eigenen Füßen.
Doch Miller blieb rastlos, wollte weiterziehen. Schon 1934 ließ sie ihr New Yorker Studio zurück, um den wohlhabenden ägyptischen Geschäftsmann und Ingenieur Aziz Eloui Bey zu heiraten und mit ihm nach Alexandria zu ziehen. In dieser Zeit arbeitete Miller ausschließlich an ihrer Kunstfotografie und die Aufnahmen, die damals in der Wüste von Ägypten entstanden, zählen zu ihren bemerkenswertesten surrealen Arbeiten.
Nach einer Weile wurde sie dem luxuriösen Leben in Alexandria allerdings überdrüssig. Als sie 1937 zu einem Ball der Surrealist*innen in Paris eingeladen wurde, ergriff sie die Gelegenheit, wieder in die aufregende, ikonoklastische Welt der Avantgarde einzutauchen. Auf dem Ball begegnete sie dem britischen Künstler und Kurator Roland Penrose und verbrachte den Sommer in Gesellschaft dieser neuen Flamme und der alten Truppe von Picasso und Konsort*innen.
Als der zweite Weltkrieg ausbrach, lebten Miller und Penrose bereits zusammen in London. Entgegen aller Ratschläge von Freund*innen und dem Verlangen ihrer Familie, sie solle nach Amerika zurückkehren, steuerte Miller eine neue Laufbahn an: als Kriegsberichterstatterin. Ende 1942 wurde sie die offizielle Kriegsfotografin für Conde Nast Publications.
„Ich lebte in Hitlers Privatwohnung in München, als sein Tod bekannt gegeben wurde.”
Nur ein Monat nach D-Day fotografierte sie den Einsatz von Napalm bei der Belagerung von St Malo (das Foto wurde zensiert). Zusammen mit ihrem Mentor, dem etablierten Life-Magazin-Fotografen David E. Scherman, dokumentierte sie entscheidende Kapitel des Weltkriegs: die Befreiung von Paris, die Schlacht von Alsace, den Horror der Konzentrationslager. Millers Stil war stark vom Surrealismus geprägt, sie hatte ein Gespür für Dramaturgie und fand beunruhigende neue Blickwinkel. Aber auch ihre Erfahrung in der Modewelt machte sich in ihren Fotos bemerkbar.
Das wohl berühmteste Bild von Miller zeigt sie in einer Badewanne. Erst auf den zweiten Blick, erschließen sich dem Betrachter befremdliche Details: ein Portrait von Adolf Hitler auf dem Wannenrand, schmutzige Stiefel auf der Badematte. Schermann schoss das Foto von Miller am 30. April 1945, dem Tag an dem der Badewannenbesitzer, kein anderer als der Führer selbst, sich erschoss – doch das sollten die beiden, die zusammen mit anderen in Hitlers Münchner Privatwohnung nächtigten, erst später herausfinden.
Dieser Akt des „Hausfriedensbruchs” war eine Art Katharsis: Der Dreck an Millers Stiefeln stammte noch von einer niederschmetternden Tour durch das Konzentrationslager Dachau, die sie nur Stunden zuvor gemacht hatte. Das Bedürfnis, den Schrecken abzuwaschen und den Urheber des Grauens zu degradieren, muss enorm gewesen sein. Darin besteht wohl die surreale, verstörende Qualität dieser Aufnahme, die um die Welt ging.
Viele von Millers Fotos, die gegen Ende des Krieges entstanden, waren jedoch zu erschreckend, um veröffentlicht zu werden. Nach ihren aufrüttelnden Besuchen in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald überkam Miller die dunkle (und korrekte) Vorahnung, dass Teile der Gesellschaft sich vor diesen Fakten sträuben, sie einfach nicht wahrhaben wollen würden. In mehreren Telegrammen bat Miller die Vogue-Redaktionen, ihre Fotos zu veröffentlichen.
Im Mai 1945 schrieb sie von der deutschen Front: „Keine Frage, dass deutsche Zivilisten wussten, was los war. Die Eisenbahn ins Lager Dachau fährt an den Villen vorbei, mit Zügen von toten oder halbtoten Deportierten. Normalerweise fotografiere ich keine Schrecken. Aber denken Sie nicht, dass nicht jede Stadt und jedes Gebiet reich an ihnen ist. Ich hoffe, Vogue wird das Gefühl haben, diese Bilder veröffentlichen zu können.“
Zwischen 1942 und 1945 erschienen Millers Kriegsreportagen, wenn auch stark zensiert, in der britischen und amerikanischen Vogue. Sie gehören zu den wichtigsten Arbeiten Millers und am Ende des Krieges fiel es ihr schwer, die Front und den Erfolg ihrer Reportagen hinter sich zu lassen. Doch die Dinge, die sie auf diesen Abstechern in die tiefsten Abgründe der Menschheit erlebte, sollten sie noch lange verfolgen.
Vom Fotostudio in die Gourmetküche
Nach dem Krieg kehrte Miller relativ nahtlos zu ihrer Tätigkeit als Modefotografin zurück. Doch litt sie zunehmend an etwas, das man heute als Posttraumatische Belastungsstörung kennt. Dazu kam, dass der britische Sicherheitsdienst MI5 Miller verdächtigte, eine sowjetische Spionin zu sein und sie unter Überwachung stellte.
1946 heiratete Miller Roland Penrose, den Mann, der seit zehn Jahren an ihrer Seite war, und brachte noch im selben Jahr ihren Sohn Antony auf die Welt. Im Jahr darauf zog die junge Familie in ein Haus im Süden Englands, um dem Smog und dem Chaos der Stadt zu entkommen – und wohl auch, um für Miller einen Ort des Rückzugs und der Erholung zu schaffen.
Während der 1950er und 60er wurde Millers und Penroses „Farley Farm House” zum Treffpunkt für Künstler*innen, Schriftsteller*innen und Schauspieler*innen aus ganz Europa, darunter Man Ray, Picasso, Eileen Agar, Henry Moore, Dorothea Tanning und Max Ernst. Miller trank zu viel und durchlebte wiederkehrende depressive Episoden, sodass sie sich schwer damit tat, sich um ihren Sohn zu kümmern.
Mit der Zeit zog sie sich aus der Dunkelkammer zurück und entdeckte dafür eine Leidenschaft für die surreale Gourmetküche: Ihr Rezept für Marshmallows in Cola-Sauce erfand sie speziell, um einen englischen Kritiker zu brüskieren, der sich über die amerikanische Küche lustig gemacht hatte. Miller starb 1977, an Krebs. Ihre Asche wurde in ihrem Kräutergarten verstreut. Heute beherbergt „Farley Farm House” die persönlichen Archive von Lee Miller und Roland Penrose, und wird bald wieder für Besucher*innen offen stehen.
Ein inneres Feuer
Was mich persönlich an Miller fasziniert, ist der Balanceakt, den sie zeitlebens brilliant vorführte: der Tanz zwischen Schatten und Licht, Aufstieg und Untergang, Angst und Liebe. Millers Fähigkeit, sich trotz traumatischer Erlebnisse, Depressionen und Alkoholsucht immer wieder neu zu erfinden, ist ein aufbauendes Beispiel für jeden, der vom Leben nicht nur mit Glück überschüttet wurde – also in anderen Worten: für jeden von uns.
Miller bewahrte stets ein inneres Feuer, eine trotzige Lebenslust. Nie ließ sie sich ihren Humor, ihre Kreativität und Selbstbestimmtheit nehmen. Und doch: Kaum eine Frau ihrer Generation schaffte es, sich ungestraft über gesellschaftliche Normen hinwegzusetzen. Auch Miller entkam nicht dem abschätzigen, (halb)öffentlichen Urteil, sie führe ein liederliches Leben und sei eine Rabenmutter. Manchmal frage ich mich, ob sich, was derartige Sentiments betrifft, seit Millers Zeiten allzu viel geändert hat.
Wer kann sagen, was Miller ohne die Limitationen ihrer Era noch alles erreichen hätte können? Wie viel heller wären die dunklen Kapitel ihres Lebens gewesen, hätte sie die psychologische Behandlung erhalten, die sie offenbar brauchte? Wäre sie schon zu Lebzeiten zur Ikone geworden? Die Antworten auf diese Fragen werden wir nie wissen. Doch wir können uns darüber freuen, Lee Miller endlich entdeckt zu haben – und uns vornehmen, Frauen wie ihr auch heute mit unserem Urteil keinen zusätzlichen Stein in den Weg zu legen.
Unsere Autorin
Lisa Reinisch ist Journalistin, Autorin und Unternehmerin. Artikel von ihr erschienen in Monocle, Wanderlust, Sunday Times Travel, Harper's Bazaar Art und Architektur.
Seit einigen Jahren beschäftigt sie sich vermehrt mit Klima- und Umweltfragen, zum Beispiel im Auftrag des World Wildlife Funds (WWF). Sie ist Mitbegründerin von Project ECARUS, einer Initiative zur Entwicklung des ersten solarbetriebenen Expeditions- und Reisefahrzeugs der Welt.