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Allein in bester Gesellschaft

von Lisa Reinisch

Der Mensch: Ein soziales Tier, mit tief sitzendem Verlangen nach Kontakt. Die Welt: Mitten in einer globalen Pandemie, mit gesetzlich verordnetem Mindestabstand. Das Resultat: Viele von uns waren im letzten Jahr mehr allein, als jemals zuvor. Andere wiederum erlebten diverse Lockdowns und Quarantänezeiten im Kreise von Familie und Mitbewohnern, und sehnten sich nach mehr Zeit für sich. So oder so, das Thema Alleinsein – schon immer kein einfaches – hat in der letzten Zeit eine neue Tragweite bekommen. Doch was wäre, wenn wir unsere Aufmerksamkeit bewusst auf die positiven Seiten des Mit-Sich-Alleinseins lenken?

Frau Handstand in der Wueste

Bevor wir uns den potentiellen Vorteilen widmen, braucht es einen Schuss Kontext: Wissenschaftlich steht schon lange ausser Zweifel, dass kaum ein Mensch dauerhafte soziale Isolation unbeschadet überstehen kann. Chronische Vereinsamung kann sich fatal auf die Gesundheit auswirken: Von Depressionen und Angstzuständen, bis zu Bluthochdruck, Immunschwäche und Suizid. Eine Studie verglich die Gesundheitsrisiken des Gefühls der Einsamkeit sogar mit denen von Fettleibigkeit oder dem täglichen Rauchen von 15 Zigaretten. Einzelhaft gehört nicht ohne Grund zu den schwersten Strafen, die unsere Gesellschaft verhängt. Vorübergehende, bewusst erlebte Phasen ohne soziale Kontakte dagegen können richtig gut tun. Sich zurückzuziehen, auf sich selbst zu besinnen, ungestört Neues zu entdecken oder einfach nur ein wenig dolce far niente zu betreiben – je nach Persönlichkeit und Lebenslage kann das zu den grossen (Selbst)Belohnungen des Lebens gehören. Persönliches Wachstum, Aha-Momente und spirituelle Vertiefung wären ohne Alleinsein kaum vorstellbar.


Mythische Einsamkeit

Von Buddha, Jesus und Mohammed, bis Aristoteles, Tolstoi und Einstein: die grossen Denker der Geschichte erlangten ihre tiefsten Erkenntnisse in der Abgeschiedenheit von anderen Menschen. Auch der Stoiker Seneca sah in der Einsamkeit ein Geschenk an sich selbst: “Massengeselligkeit ist durch die Wucht der Einstimmigkeit für uns eine Schule der Fehler. Mögen wir auch sonst nichts für unser Seelenheil tun, die Abgeschiedenheit ist doch an und für sich schon von Nutzen: wir werden uns bessern, wenn wir vereinzelt sind.”


Das Wort Einsamkeit stammt übrigens aus dem Mittelalter und bezog sich ursprünglich auf die mystische Vereinigung des Menschen mit Gott – ein Erlebnis, das meist an abgeschiedenen Orten stattfand. Ab dem 18. Jahrhundert wurde “die Einsamkeit” immer mehr zum säkularen Begriff, der mit der Zeit negative Konnotationen in sich bündelte.


Wer kein Prophet oder Philosoph ist, wird diesem Thema wohl eher pragmatisch gegenüberstehen. Die meisten von uns können nur versuchen, diesen Zustand, beziehungsweise dieses Bedürfnis, bestmöglich zu verstehen und handzuhaben. Tatsächlich liegen zwischen den überzeugten Einzelgängern unter uns, die ihre Freiheit gern ein Leben lang kultivieren, und den sozialen Herdentieren, die nur hin und wieder eine soziale Auszeit brauchen, ganze Welten.


Einsamkeit versus Alleinsein

Wie eine Phase der sozialen Abkoppelung empfunden wird, und wozu sie führen kann, kommt stark darauf an, wie lange sie andauert und ob sie freiwillig eingegangen wurde. Wer schon einmal allein verreist ist oder, leider aktuell, sich 10-14 Tage allein in Quarantäne begeben musste, weiss, welche inneren Tumulte sich in so einer “Zeit mit sich” abspielen können.


Am Ende gehen jedoch viele Menschen gestärkt aus solchen Erfahrungen hervor.

Eine Alleinerziehende Mutter, die sich nach dem Auszug des Sprösslings (aber vor der Pandemie) einen Urlaub allein gönnte, beschrieb es so: “Zuerst war es mir irrsinnig unangenehm, allein im Restaurant zu sitzen. Doch dann fiel mir auf, dass ich nicht die Einzige war und fing an, es zu geniessen. Ich hatte tolle, völlig andere Erlebnisse, als wenn ich in Begleitung dort gewesen wäre. Danach fühlte ich mich irgendwie stärker, unabhängiger.”

Ein Freund, der alleine in Quarantäne gehen musste: “Natürlich gibt es Tiefpunkte, man vermisst alles und jeden, es kommen Stimmungen auf. Aber irgendwann stellt man sich doch darauf ein. Man verbringt die Tage dann bewusster und spürt deutlicher, was einem gut tut.”


Viel hängt scheinbar davon ab, ob und wie man den Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein für sich definiert. Einsamkeit klingt traurig, ungesund, unattraktiv. Alleinsein wiederum wird mit Ruhe, Regeneration und persönlicher Weiterentwicklung in Verbindung gebracht. Doch in Zeiten wie diesen verblasst die Grenze zwischen den beiden Begriffen mitunter. Die Tatsache, dass man sich sowohl unter Menschen einsam als auch allein in bester Gesellschaft fühlen kann trägt das ihre dazu bei.


Was bedeutet also Einsamkeit (schlecht) versus Alleinsein (gut)? Der Meditations-Lehrer und Autor Anthony De Mello drückte es so aus:


„Einsamkeit heißt, Menschen zu vermissen. Alleinsein heißt, sich selbst zu genügen.”

Alleinsein ist kein Leistungssport

Die Ansprüche an uns selbst sind jedoch mitunter unbarmherzig und machen es uns schwer, allein zur Ruhe zu kommen. Ohne Gesellschaft scheinen selbst Dinge, die uns sonst Freude bereiten, scheinbar ihren Sinn zu verlieren: aufwendig kochen, Ausflüge machen, regelmäßig duschen. Irgendwo zwischen Fallenlassen und Abrutschen, Selbstfindung und Malheur, spielt sich die Art Alleinsein ab, die uns als Menschen weiterbringt. Gesellschaftlich scheint Alleinsein allerdings nur dann positive Bewertung zu finden, wenn alles kontrolliert und produktiv abläuft.


Ob man das Alleinsein effektiv nutzt oder sich eine Auszeit von der Leistungsgesellschaft genehmigt, sollte aber dann doch jedem Einzelnen überlassen sein. Gerade während Lockdowns nehmen gut gemeinte Ratschläge schon fast Auftrags-Charakter an. Was man nicht alles mit seiner vermeintlich zusätzlichen Zeit tun sollte: Eine Sprache lernen, Sauerteigbrot backen, meditieren! Die Ansprüche an sich selbst herunterzuschrauben und genüsslich unproduktiv zu sein, gehört genauso zur inneren Freiheit, wie sich ein neues Hobby zulegen.


Frau tanzt in der Wueste

Gut mit sich allein sein zu können ist also eine Frage des persönlichen Zugangs. Und auch eine Fähigkeit, die man sich aneignen kann – egal ob man sich gerade mit seiner inneren To-Do-Liste, oder einer Überdosis Netflix allein fühlt. So mancher erlernt das entspannte Alleinsein allerdings erst nach einer Einstiegsphase, in der sich intensive Langeweile mit inneren Gefühls- und Bildstürmen abwechselt. Das fand auch Sebastian Kühn, Autor von 12 NEUE LEBEN: Selbst[ver]suche heraus, als er sich für einen Monat in die Abgeschiedenheit einer schwedischen Blockhütte zurückzog und dabei an die Grenzen seiner mentalen Belastbarkeit stieß. Warum er sich dieser Situation freiwillig aussetzte? Eine Frage inspirierte sein Selbstexperiment: “Wer bin ich, wenn niemand zuschaut?” Die Antwort ließ wochenlang auf sich warten, Kühn durchlebte dabei Höhen und Tiefen, bevor er am Ende mehr Klarheit, Kreativität und innere Freiheit empfand.


Kühn’s Fazit: “Alleinsein ist gewissermaßen die Voraussetzung für eigenständiges Denken. Nur wenn ich allein sein kann, bin ich unabhängig von all den äußeren Einflüssen, die mich manipulieren. Genau deshalb wird Privatsphäre in totalitären Staaten verhindert. Das dauernde Gefühl, beobachtet zu werden, lässt keine freien Gedanken zu. Kontrolle und Kreativität schließen sich aus.”


Die Fantasie der Alleingänger

Der Zusammenhang zwischen Alleinsein und Kreativität beschäftigt auch die Wissenschaft. Im Dezember 2020 sorgte eine kanadische Studie auf der Fachplattform Nature.com für Aufsehen: Eine Gruppe von Wissenschaftlern an der McGill University fand heraus, dass Einsamkeit das menschliche Gehirn strukturell verändert – und zwar durchaus zum Positiven.


Die Forscher analysierten 40.000 Gehirn-Scans und führten eine Befragung der Teilnehmer durch, in der sich 13% als einsam beschrieben. Die Scans dieser Teilnehmer zeigten, im Vergleich zu den anderen, deutliche Unterschiede – allerdings nicht jene, die sich die Wissenschaftler erwartet hatten. Sie beobachteten, dass bestimmte Gehirnareale von einsamen Menschen größer und besser vernetzt waren, als bei nicht einsamen Menschen. Die grauen Zellen in Bereichen des Ruhezustands-Netzwerk waren bei den Einzelgängern stärker ausgeprägt. Diese Areale spielen bei nach innen gerichteten Denkprozessen, wie Erinnerung, Vorausplanung und Fantasie, eine entscheidende Rolle.

Im Klartext: Einsamen Menschen haben eine messbar stärkere Vorstellungskraft.

Der Grund? Doktor Nathan Spreng, Leiter der Studie, stellte es so dar: “In Ermangelung gewünschter sozialer Erfahrungen können einsame Menschen zu nach innen gerichteten Gedanken, wie dem Erinnern oder Vorstellen sozialer Erfahrungen, neigen." Schwelgen in Erinnerungen, sich in Gedanken verlieren und Zukunftsfantasien spinnen – es scheint, dass einsame Menschen ihr Gehirn darauf abrichten, das innere Leben zu beflügeln, wenn das externe Dasein wenig Abwechslung bringt. Ein kognitiver Vorteil, der trotzdem ein trauriges Bild von einsam vor sich hin grübelnden Singles heraufbeschwört. Aber Moment, geht hier vielleicht gerade unsere Fantasie mit einem kulturellen Cliché durch?


Singles sind glücklicher als du denkst

Dauerhaft Single zu sein wird, vor allem ab einem gewissen Alter, häufig als eine Art soziale Anomalie betrachtet. Mitleid kommt auf, Verkupplungsversuche werden ausgeheckt, Verdacht wird geäußert. Woran liegt’s? Karrieresucht, Bindungsangst, Eigenbrötlertum?


Frau am Strand

Die amerikanische Psychologin Bella DePaulo verglich vor einigen Jahren 814 Studien, die das Leben von Singles erforschten (wenn auch oft nur als Randnotiz) und gelangte zu einem aufmunternden Schluss: Viele Singles haben einen erfüllteren Alltag, sind Sozial besser vernetzt und erleben mehr psychologisches Wachstum als verheiratet Paare. Außerdem haben Singles, im Durchschnitt, mehr erfüllende Berufe und sind sogar weniger oft allein, als Menschen in Paarbeziehungen.

Weniger erfreulich: Singles sind gesetzlich, steuerlich und gesellschaftlich stark benachteiligt. Sogar die Wissenschaft vernachlässigt sie, und das obwohl in vielen Ländern Single-Haushalte in der Mehrzahl sind.


“Ich habe weder Frau noch Mann und auch keinerlei Bedürfnis nach Zweisamkeit. Ich bin mir selbst genug," schrieb "dieeimwaldlebt" 2012 in Ihrem Buch "Aussteigerin aus Versehen: wahre Geschichte vom glücklichen Leben mit der Einsamkeit und im Wald". Für manche von uns ist die Zweierbeziehung eben kein Lebensziel. Ja, manche von uns kommen richtig gut mit sich selbst aus und lassen sich ihre ihr persönliches “Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage...” nicht von Märchen oder Hollywood diktieren.


“All you need is love,” meinen ja nicht nur die Beatles. Aber stimmt denn das wirklich? DePaulo, selbst eine überzeugte Single Lady, sieht ein Gegenmodell zur Kernfamilie als Grundbaustein eines erfüllten Lebens in einem Triumvirat der Motivation, das von Business-Guru Daniel Pink stammt: Selbstbestimmung, Meisterschaft und Sinnerfüllung. Sie sorgen nicht nur für Motivation am Arbeitsplatz, sie können auch als Schlüssel zum zufriedenen Alleinsein dienen.


Die Vorteile des Alleinseins, in all seinen Facetten, wurden lange Zeit wenig beachtet. Weder die Populärkultur (dieser Beitrag mit inbegriffen), noch die Wissenschaft, noch die Gesellschaft im Allgemeinen, haben es bisher fertig gebracht, dieses komplexe Thema fair und breitenwirksam zu beleuchten. Aber, wer weiss, vielleicht kann die globale Erfahrung der Pandemie unseren Blick auf die Sache mit dem Alleinsein ein wenig schärfen.



 

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