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Mindestabstand

von Pamela Rußmann


Alles Hoffen und Beten – vergebens. Sämtliche einschlägige Nahrungsergänzungsmittel

– umsonst (oder besser gesagt teuer, aber wirkungslos). Es hilft nix, ich muss es

eingestehen: Ich bin Generation Mindestabstand.


Das hat nichts mit Viruserkrankungen zu tun, aber wenn es eine Impfung dagegen gäbe,

ich würde sie nehmen, glauben Sie mir. Nein, ich spreche von dem Umstand, dass ich das

normal Gedruckte nicht mehr entziffern kann. Ich brauche nun einen gewissen Abstand.

Von meinen Augen bis zum Zeitungsartikel. Von meinen Augen bis zur Textnachricht am

Handy. Und von meinen Augen bis zur Waschanleitung in der Seidenbluse. Eigentlich

auch von meinen Augen bis zu meinen Augen – weil schminken Sie sich mal eine schöne

Augenbraue, wenn Sie weder nah am Spiegelbild noch weit weg vom Spiegelbild

erkennen können, ob der Strich zu dick, zu dünn oder überhaupt in der Nähe dessen ist,

was ich gern als Augenbraue definiert hätte. Und nein, mit aufgesetzter Lesebrille klappt

das nicht. Ich habe es versucht. Man nennt es Altersweitsichtigkeit.


Dieser Begriff setzt Bilder frei, die Klassikkonzerte in Kurparks am Sonntag Nachmittag, begeistertes Kieksen bei Ansicht eines – nein: jedes Neugeborenen und Tränenvergießen bei gewissen Schnulzen aus dem Jahre Schnee beinhalten. Dieser Begriff atmet nicht den Duft jugendlicher Coolness. Er evoziert nicht Sturm und Drang. Er klingt nach gespielt empörtem „also wir früher“ und rührseligem „kannst dich noch erinnern“.

Mein überaus freundlicher, aber nüchterner Kontaktlinsenoptiker hat bei der letzten

Augenkontrolle die Jahrgänge aufgezählt, die „nun dran“ seien, und bei dieser Statistik bin

ich also auch dabei. Gut, hat ihn nicht weiter tangiert, der Mann ist Profi. Und ein Mann.


Nun finde ich mich also seit geraumer Zeit in absolut demütigenden Positionen wieder. Ich

nehme in Wirtshäusern lässig Kassenbelege entgegen und schätze den Gesamtbetrag der

Konsumation – weil lesen kann ich ihn nicht. Die Frage „Haben´S vielleicht 10 Cent klein?“

verneine ich an der Billa-Kassa kategorisch, weil ich nicht unwürdig mit Mindestabstand

in meinem Geldbörserl kramen will, oder noch schlimmer: zuerst die Lesebrille aus der

Handtasche evakuieren will, bis irgendjemand schreit „Zweite Kassa, bitte!“

Meine Freundin Jutta hält mir ihr Handy entgegen, weil sie mir ein Urlaubsfoto zeigen will

– und mein Oberkörper macht bereits automatisch diese nervige Kurvenbewegung nach

hinten, Abstand, mah bitte, Abstand! Freundlicherweise nennt die Freundin die Namen der

abgebildeten Urlaubspersonen am Bild, somit sehe ich die ausgelassene Gruppe vor meinem inneren Auge und mit Antlitzen aus einer vergangenen Zeit. Sozusagen

natürliches Anti-Aging.


Ich stehe in Reformhäusern und würde gerne Inhaltsstoffe ablesen, aber egal, wie ich die

Packung drehe und wende, egal, in welches Licht ich sie halte, die Buchstaben werden

nicht größer, nur meine Ohnmacht und mein Ärger darüber, dass die Natur sowas

Undurchdachtes zulässt.


"Altern! Wie dumm ist das bitte! Und wem nützt das? *eyeroll*!"

Alles, was jemals über die Jugend und alles, was jemals über das Alter gesagt wurde,

stimmt. Vollumfänglich. Es gibt Dinge, die man einfach nur als Mittzwanzigerin bis maximal

Mittdreißigerin macht. Das zu enge und zu kurze T-Shirt tragen. Stundenlang mit der

besten Freundin kichern und süße Selfies in industriellen Mengen produzieren. Sich um

kurz vor Mitternacht aus dem Pyjama raus und hinein ins Cluboutfit schmeißen, um drei

Tage später heimzukommen. Sich die Haare raspelkurz schneiden und platinblond färben.

Vom Vortag übrig gebliebene Pizza zum Frühstück auf der Couch essen und nicht

ausrasten, wenn kaltes, ekliges Fett auf den Couchstoff tropft. Und unendlich, can´t-live-

without-verliebt-Sein in einen Typen, der einem an der Bar einen – DEN – Blick

zugeworfen hat, jaja, alles klar, bis ans Ende der Welt, ich bin dabei.

Und urplötzlich, ohne große Vorankündigung, ist man diejenige, die gewisse Outfits von

Teenagern als diskussionswürdig empfindet, die sich wegen schlechter Manieren von

anderen Passagieren ts-ts-ts-end durch Straßenbahngänge schiebt und die „Zib2“ seit

Monaten nicht mehr live gesehen hat, weil eingeschlafen, bevor der geschätzt-gefürchtete

Interviewer Armin Wolf seine Schultern für die Anmoderation justiert hat.


Jetzt, fast 30 Jahre nach meiner Matura, verstehe ich Aussagen wie „Geh auf Reisen!

Wenn du es jetzt nicht machst, dann machst du es nie!“ Ich erkenne den Schmerz, der in

Sätzen wie diesen steckt, denn selten ist der junge Mann oder die junge Frau gemeint, an

den der Rat gerichtet ist. Der Satz geht an das eigene junge Ich, an das man wehmütig

denkt und dem man gerne ausrichten würde:


"Sei mutiger, mach einfach, denk weniger nach, carpe diem. Die Zeit, sie fliegt, und sie kommt nicht wieder."

Mit 18 hat man tatsächlich keine Ahnung, wie schnell die Zeit vergeht, und ich

entschuldige mich bei allen Ahnen und Urahnen, die mich bei obligatorischen

Familienfesten im Jahreskreis mit „Mei, groß bist worden!“ genervt und einen

entsprechend angewiderten Blick erhalten haben. Jetzt, hui, jetzt ertappe ich mich selber

dabei, wie ich genau diesen Satz im Kopf habe, wenn ich kleine Kinder von Freundinnen

oder Verwandten länger nicht gesehen habe, und ich muss mich hart stoppen, dass der

Satz meinen Mund nicht verlässt. Coolness verlängern, so lange es geht, you know.


"Altern – oder anders formuliert: nicht mehr jung sein – ist Arbeit. Und ich meine damit nicht die Erwerbsarbeit, und auch nicht die unbezahlte Care-Arbeit. Ich meine die Arbeit an sich selbst. Am Körper, am Geist, am Esprit, an der Energie."

Alles erfordert ein wenig mehr Anstrengung und Aufmerksamkeit als früher. Der Körper meldet sich mit Wehwehchen und Verspannungen, wenn er nicht täglich gedehnt, bewegt, gestreckt, gespürt wird. Der Geist wird träge und starr, wenn er nicht regelmäßig frische Gedanken denken darf, wenn sein Horizont nicht beständig erweitert wird. Und nein, es stimmt nicht, dass seit den 90ern „keine gscheite Musik“ mehr gemacht worden ist. Fünf, setzen! Oh Mann, dieses Date ist hiermit zu Ende. Aber das ist ein anderes Thema.


Und dennoch: Trotz all der Bemühungen, trotz all der Liebe und Achtsamkeit, die ich mir

zuführe und mit der ich mich nähre: das Kleingedruckte wird nun der Tochter unter die

Nase gehalten. „Geh, lies mir das schnell vor!“ Möge sie lange im gemeinsamen Haushalt

wohnen bleiben.



 


Unsere Autorin:


Pamela Rußmann fotografiert seit ihrer Kindheit und parallel dazu schwingt stets die Liebe zu(m) Texten mit: Sie arbeitete beim ORF-Radiosender FM4, ist Gründungsmitglied der ORF-Late-Night-Show „Willkommen Österreich“ und verschlingt und diskutiert mit großer Leidenschaft Literatur im von ihr gehosteten Buchklub „Salon Sorority“. Für das Jahr 2020 hatte sie ein neues Lebenskapitel geplant, sie zog einen Schlussstrich unter ihre Fernsehtätigkeit, ab Mitte März war alles darauf ausgerichtet, den Fokus komplett auf die Fotografie zu legen. Doch dann kam der erste Lockdown und ihr bereits schön gefüllter Kalender war plötzlich leergefegt. Aber der Lockdown hat sie nicht blockiert, sondern sie hat in dieser Zeit ein kreatives Projekt entstehen lassen und im Lockdown Frauen auf der ganzen Welt zu einem Online-Shooting gerufen – deren Portraits und Gedanken zur Pandemie sind im bewegenden Buch: „Irgendwann geht auch das vorbei“ festgehalten.


Die Fotografin zog selbst wichtige Lehren aus ihrem Projekt, unter anderem, wie wertvoll persönliche Kontakte sind, wie wenig es bedarf, um zufrieden zu sein, „und wie wirklich zerbrechlich das Leben ist. Wir haben bemerkt, wir haben alle in einer Schein-Sicherheit gelebt und von einem Tag auf den anderen war das Leben komplett anders.“


Pamela hat sich als Fotografin auf Porträts von Frauen spezialisiert, die Bandbreite geht von Personal Branding / Businessportraits über Life Photography wie Babybauchfotos oder Couple Shootings bis hin zu Pressefotos für all jene, die eine professionelle fotografische Repräsentanz in den Medien brauchen.


„Mit der Fotokamera richte ich mein Sehen, meine Seele auf das, was vor mir, rund um mich herum und zugleich mit mir geschieht. Diese Arbeitsweise erfordert eine seltsame Hybridpräsenz: Ich bin Teil des Ganzen, aber zugleich muss ich mich soweit abgrenzen, dass ich nicht völlig vereinnahmt werde. Ich mag den Begriff der „durchlässigen Grenze“ sehr gern, denn obwohl ich nicht inszeniere und anweise wie eine Regisseurin, will ich natürlich die Kontrolle behalten und innerhalb der Begrenzung meines Suchers arrangieren. Für mich ist der entscheidende Moment dann gekommen, wenn ich von den Menschen, auf die ich meine Kamera richte, nicht mehr wahrgenommen werde als Eindringling oder als Fremdkörper, wenn sie „vergessen“, dass ich da bin. Ist das geschafft, gelange ich manchmal in sehr private Situationen, in denen der Finger am Auslöser zögert und ich mich frage, darf ich das jetzt überhaupt? Darf ich so nah sein, soll ich so nah sein?“



Neugierig auf Pamelas fotografische Arbeit?

Dann schaut euch doch einmal diese Fotogalerie an:




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