TEXT: LISA REINISCH
Egal welches große Gesundheitsproblem unserer Zeit man beleuchtet – von Asthma, Krebs, Herz-Kreislauferkrankungen bis Diabetes und selbst bei COVID19 – das Geschlecht des Patienten beziehungsweise der Patientin spielt eine ausschlaggebende Rolle. Eine, die jedoch in den allermeisten Fällen noch nicht mal annähernd ausreichend erforscht ist. Das hat ernsthafte Auswirkungen auf das Leben von Mädchen und Frauen, die im Durchschnitt schlechtere medizinische Betreuung erhalten.
Für die medizinische Forschung gab es lange Zeit nur ein Geschlecht und zwar das männliche. Frauen wurden in Studien kaum eingeschlossen, da ihre Physiologie – allem voran der weibliche Hormonhaushalt – als zu komplex galt. Erst seit den frühen 1990er-Jahren werden Arzneien, Therapien und Diagnostik systematisch auch auf den weiblichen Körper abgestimmt.
Univ. Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer leitet seit 10 Jahren die Abteilung für Gendermedizin an der Meduni Wien, die als eine der führenden Stellen dieses Fachs in Europa gilt. Wir befragten sie zum Stand der Gendermedizin im deutschsprachigen Raum und welche Vorteile es Patientinnen bringt, sich an Mediziner*innen zu wenden, die Erfahrung auf diesem Gebiet vorweisen können.
Was ist Gendermedizin?
Gendermedizin ist die Wissenschaft, die den Einfluss von biologischem Geschlecht, das man im Englischen als „sex” bezeichnet, und dem psycho-sozialen Geschlecht, Englisch „gender”, gemäß einem „bio-psycho-sozialen Modell” erforscht und welches gleichermaßen Gesundheit und Krankheit berücksichtigt. Die menschliche Biologie steht hier ganz klar im Fokus. Es wird genau geschaut: Was unterscheidet Männer und Frauen und wie unterschiedlich manifestieren sich ganzheitlich betrachtet Krankheiten, Mechanismen und dementsprechend auch die Behandlungsmöglichkeiten? Es geht um Prävention, Diagnose, Therapie und Rehabilitation in allen Lebensphasen.
Das beginnt schon im Mutterleib. Wenn es ein Bub oder Mädchen ist, gibt es bereits intra-uterin geschlechtsspezifische Entwicklungsstrategien und das zieht sich durch bis ins hohe Alter, mit unterschiedlichen Alterungsprozessen und schließlich auch mit der unterschiedlichen Mortalität.
Frauen haben viel mehr unterschiedliche Lebensphasen. Von der Pubertät bis zur Menopause können sich Probleme in puncto Menstruation, Schwangerschaft, Stillen, Verhütung etc. ergeben; durch den weiblichen Zyklus, in dem sich alle vier Wochen die Hormone massiv ändern, und dann die Menopause, in der das Östrogen fast gegen null geht – all diese Themen gibt es beim Mann nicht.
Gendermedizin ist aber nicht nur für Frauen da, sie dient auch den Männern. Es gibt schließlich auch Gebiete, wo Männer schlechter dran sind: Depression und Osteoporose sind klassische Beispiele, wo Männer unterversorgt sind, weil diese Beschwerden bei Frauen häufiger diagnostiziert und deshalb Frauen zugeschrieben werden – und dadurch bei Männern oft übersehen werden.
Welche Unterschiede zwischen Männern und Frauen spielen die wichtigste Rolle in der Gesundheit?
Die Hormone sind ganz entscheidend. Diese unterscheiden sich aufgrund der Geschlechtschromosomen, die die geschlechtliche Entwicklung triggern: bei Frauen mit XX und Männer mit XY. Was man daraus ableiten kann: Frauen haben, stark vereinfacht ausgedrückt, eine höhere „X-Dosis”, das heißt, sie haben ein „Reserve-X”, durch das Krankheiten, die mit Genen auf dem X-Chromosom in Verbindung stehen, von Frauen besser kompensiert werden können. Dazu gehören Gene für das Immunsystem, Hirn und Herz-Kreislauf-System. Da hat die Frau sozusagen von Natur aus einen gewissen Vorteil.
Von besonderer Bedeutung ist auch die Genaktivität, die sich zwischen Männern und Frauen stark unterscheidet. Die Gene sind, an und für sich, sonst nicht unterschiedlich bei Mann und Frau. Aber ob gewisse Gene angeschaltet, oder abgeschaltet werden, das ist oft geschlechtsspezifisch und auch abhängig von Lebensstil und Umweltfaktoren. All das läuft unter dem sehr spannenden Gebiet der Epigenetik. Hier sieht man, dass man Biologie, Umwelt, Gesellschaft und sozio-kulturelle Faktoren nicht trennen kann. Wir haben hier eine dauernde Wechselwirkung zwischen, zum Beispiel, den Geschlechtshormonen und Umwelteinflüssen – wie ich mich verhalte, wie ich mich ernähre, wo und wie ich lebe, wie alt ich bin. All das hat Einfluss auf die Gesundheit.
Was sind die bisher größten Durchbrüche der internationalen Gender Medicine?
Der wirkliche Durchbruch ist wohl, dass sich die Gendermedizin überhaupt etabliert hat und zwar in allen Fachbereichen der Medizin. Sicher ist es auch ein Durchbruch, dass die Arzneimittelbehörden in der Zwischenzeit verlangen, dass sowohl Männer als auch Frauen in Studien eingeschlossen sind. Da haben viele Pionier*innen der Gendermedizin mitgewirkt:
Früher war es, zum Beispiel, tatsächlich möglich, dass an einer Aspirin-Studie nur Männer teilgenommen haben, und sich danach herausgestellt hat, dass Frauen vermehrt Blutungskomplikationen bekamen. So etwas gibt es heute nicht mehr.
Noch ein großer Durchbruch besteht wohl bei den Förderungen, die das Gender-Thema vermehrt ins Bewusstsein rücken. Die NIH (National Institutes of Health) in den USA, aber auch die EU, verlangen jetzt, dass medizinische Studien zum Thema Gender Stellung beziehen.
Der große Aufhänger, als das Ganze in den 90er-Jahren begonnen hat, war allerdings das Thema Herzinfarkt. Dr Bernadine Healy publizierte damals im New England Journal, dass Herzinfarkte bei Frauen oft nicht erkannt werden, weil sie oft nicht die „typischen”, also vom Mann abgeleiteten, Beschwerden haben. Kein Schmerz in der Brust, der dann in den linken Arm ausstrahlt, sondern vielmehr Übelkeit, Erbrechen, Oberbauchschmerzen, Kieferschmerzen, einfach Erschöpfung kommen bei Frauen vor – also vergleichsweise unspezifische Symptome.
Das ist zwar in der Zwischenzeit in jedem Lehrbuch, aber das Traurige ist, dass Frauen immer noch die schlechteren Karten haben, wenn es um die rasche Diagnose eines Herzinfarkts geht. Vor allem bei jüngeren Frauen denken nach wie vor viele nicht daran, dass wir hier zunehmend Risikofaktoren haben und dass auch jüngere Frauen betroffen sein können. Leider zeigen Studien, dass Frauen nach wie vor in Notaufnahmen länger warten bis sie wirklich die richtige Diagnose haben.
Grundsätzlich ist es tatsächlich so, dass Frauen oft schwerer zu diagnostizieren sind. Beziehungsweise haben wir einfach noch nicht die richtigen Screening- und Diagnose-Tools oder nicht die idealen Biomarker bzw. deren Grenzwerte, um Probleme frühzeitig und geschlechtsspezifisch zu erkennen.
Eben weil sich die Medizin so lange am Krankheitsbild des Mannes orientiert hat, fehlen uns in vielen Bereichen die besten, evidenz-basierten, auf die Frau abgestimmten, diagnostischen Methoden und Behandlungsstrategien.
Frauen haben auch oft andere Formen von Herzerkrankungen, die nicht so einfach zu erkennen sind. Beim Mann ist es oft eindeutig Arteriosklerose, wenn ein größeres Gefäß verstopft ist. Bei der Frau kann das im Herzkatheter ganz anders aussehen, sind trotz Durchblutungsstörungen und Beschwerden die großen Gefäße oft offen und da braucht man dann spezielle, aufwendige Tests, um das zugrundeliegende Problem zu erkennen. Umso wichtiger ist es bei Frauen alle konservativen Maßnahmen auszuschöpfen und rechtzeitig alle Risikofaktoren wie Diabetes, Cholesterin und Blutdruck gut zu behandeln.
Was sicher auch eine Errungenschaft der Gendermedizin ist, sind spezialisierte Frauengesundheitszentren, die es jetzt bereits vielerorts gibt. Ich selbst bin wissenschaftliche Leiterin bei LaPura, einem Gesundheitsresort für Frauen im Kamptal, in Kollaboration mit der MedUni Wien. Am dortigen Gender Institut wird seit 2011 anwendungsorientierte Forschung betrieben, mit Schwerpunkten wie Gewichtsprobleme, Rückenbeschwerden, Verdauung, Stressreduktion, Stoffwechsel – und zwar vor allem präventiv. Wir haben hier gesehen, dass gerade in der jetzigen Zeit, wo Frauen besonders belastet sind – mit Home Office, Home Schooling, Pflege und Haushalt –, sich viele bewusster mit ihrer Gesundheit beschäftigen und ihre Resilienz stärken wollen.
Woran forschen Sie und Ihre Kollegen/innen derzeit?
Wir beschäftigen uns stark mit dem Thema Schwangerschaftsdiabetes und suchen nach Biomarkern, die uns bei der Frühdiagnose helfen könnten. Zum Beispiel möglichst früh im Speichel, im Blut oder im Urin zu erkennen, welche Frau und welches Kind ein hohes Risiko für Komplikationen hat, aber andererseits auch welche Frau im weiteren Verlauf nach der Geburt ein hohes Risiko für Diabetes Typ 2 oder eine Gefäßerkrankung aufweist. Wir arbeiten auch an Langzeitstudien, um geschlechtsspezifisch Risikofaktoren für die Entwicklung von starkem Übergewicht und Folgeschäden zu erkennen. Auch Big-Data-Analysen sind ein großes Thema, gerade etwa eine Studie über die Auswirkungen der letzten Hungerperioden in Österreich, die gezeigt hat, dass Unterernährung in der Schwangerschaft die Wahrscheinlichkeit steigert, dass sich später vor allem bei Männern Diabetes entwickelt. Wir erforschen auch die unterschiedlichen Fettarten im Körper, sowie den Zusammenhang zwischen Sexualhormonen und dem Mikrobiom (Anm. der Redaktion: Das Mikrobiom – als Gesamtheit aller Mikroorganismen in unserem Verdauungstrakt – bildet die Grundlage für unser allgemeines Wohlbefinden). Es ist eine breite, komplexe Spanne an Themen, die uns beschäftigen.
Wie findet man im deutschsprachigen Raum Ärzt*innen, die sich dieser Thematik bewusst sind und einem die bestmögliche Diagnostik und Behandlung bieten können?
Das ist mitunter etwas schwierig, weil Gendermedizin eine Querschnittsmaterie ist, dafür gibt es keinen Facharzttitel. Es könnten also Allgemeinmediziner*innen sein, die sich zusätzlich für Gendermedizin interessieren und entsprechende Fortbildungen machen. Dann gibt es natürlich in jedem Fachgebiet Expert*innen, die sich speziell damit auseinandersetzen.
Auf der Webseite der MedUni Wien werden die Mediziner*innen genannt, die einen Masterlehrgang für Gendermedizin bei uns abgeschlossen haben. Außerdem gibt es ein Diplom für Gendermedizin von der österreichischen Ärztekammer.
Aber alles in allem sind es einfach noch viel zu wenige, die das stetig zunehmende Wissen der Gendermedizin praktizieren. Nichtsdestotrotz boomt das Thema, auf jedem Kongress findet man eigene Symposien zum Thema Gendermedizin. Es gibt wirklich schon viel Informationen und die Publikationen explodieren. Die Frage ist,: Wie kommt dieses Wissen an die breite Masse?
Die europäische Arzneimittelbehörde EMA fördert seit Kurzem die Einbeziehung schwangerer und stillender Frauen in klinische Studien. Aber wie sieht das in der Realität aus? Wie kommt man zu solchen Studienteilnehmerinnen und wie geht man mit dem Risiko um, dass Mutter und Kind eventuell Schaden nehmen könnten?
Es ist ein schwieriges Thema, aber dennoch: Wir brauchen dieses Wissen. Natürlich ist es schwer, schwangere und stillende Frauen zu finden, die an medizinischen Studien teilnehmen. Gleichzeitig trauen sich nur ganz wenige Firmen daran, Studien mit Schwangeren und Stillenden durchzuführen.
Viele Frauen werden aber mittlerweile ungeplant schwanger und nehmen deshalb Medikamente ein, die eigentlich nicht für Schwangere zugelassen sind. Was Firmen also meist tun, ist nach Fällen zu suchen, wo Frauen unwissend schwanger geworden sind und gleichzeitig Medikamente eingenommen haben.
Auch nehmen chronische Krankheiten in der Schwangerschaft zu, weil Frauen immer später Kinder bekommen. Da haben viele dann schon das Problem, dass sie gewisse Medikamente für ihre Grunderkrankung weiterhin brauchen und die ideale Behandlung in dieser Phase nicht klar ist. Oder sie bekommen eine Infektion und die ideale Dosis des Antibiotikums ist nicht gut untersucht. Dann wird oft aus Vorsicht oder Angst unterdosiert, was zu Resistenzen führen kann – ein Riesenthema. Auch aktuell: Schwangere haben ein stark erhöhtes Risiko für schwere Verläufe und Komplikationen im Falle einer Coronainfektion. Dennoch werden sie derzeit nicht geimpft, weil es zu wenig Daten zur Impfung bei Schwangeren gibt!
Auch Diabetes Typ 2 gehört hier dazu: Ein schlecht behandelter Diabetes in der Schwangerschaft ist für die kindliche Entwicklung ganz schlecht. Es gibt so viele spannende neue Diabetes-Medikamente, die allerdings allesamt nicht auf ihre Wirksamkeit in der Schwangerschaft erforscht sind. Zumindest bei neuen Insulinen ist das wenigstens teilweise der Fall.
Kontrollierte, randomisierte Studien, wie es sich eigentlich gehört, gibt es meistens nicht – und wird es vielleicht für manche Indikationen nie geben.
Inwiefern spielen Soziologie, Psychologie und Politik in Ihrem Forschungsbereich eine Rolle?
Die Gendermedizin ist, in gewisser Weise, das Verbindungsglied zwischen den Fachbereichen. Wir treten dafür ein, dass wir alle gemeinsam arbeiten müssten, weil es eben nicht nur um die Biologie geht, sondern auch ganz stark um das Soziokulturelle, das einfach alles beeinflusst und das man nicht von der Medizin trennen kann.
Für mich ist klar, ich komme aus der Naturwissenschaft und die biologischen Unterschiede sind die Grundlage. Natürlich ist für mich auch klar, dass es nicht nur „typisch Mann” und „typisch Frau” gibt, dass es nicht nur das Binäre gibt, sondern eben auch viel dazwischen, Diversität. Das in meinem Bereich zu beforschen ist allerdings derzeit nahezu unmöglich, zumindest was Medikamente oder Krankheiten betrifft, weil diese Gruppen einfach viel zu klein sind. In der Zukunft wird es hier sicher mehr Daten geben, aber so wie die Situation derzeit ist, bin ich schon froh, wenn zwischen Mann und Frau unterschieden wird!
Unsere Expertin
Univ. Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer ist Fachärztin für Innere Medizin. Anfang 2010 wurde sie Österreichs erste Professorin für Gendermedizin an der Medizin-Universität Wien, wo sie die „Gender-Medicine Unit“ gründete und im gleichen Jahr die Leitung des ersten post-gradualen Uni-Lehrgangs für Gendermedizin in Europa übernahm. 2016 wurde sie zur Wissenschafterin des Jahres gekürt.