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Wenn’s kommt, kommt’s dicke: Was ist dran an dem Phänomen Pechsträhne?

Aktualisiert: 2. Apr.

TEXT & INTERVIEW: VIKTÓRIA KERY-ERDÉLYI


Ein Schicksalsschlag kommt selten allein: Schon mal eine richtig schlimme Lebensphase erlebt? Erfahren manche mehr, andere weniger Unglück? Wie wir mit Schmerz, Kontrollverlust und Frust umgehen und wie man sich ein bisschen wappnen kann.


Scherben bringen Glück Spiegel zerbrochen Frau
Foto: Shvets Production

Mein Supermarkt-Einkauf an diesem Tag ist rekordverdächtig. Allein schon bis ich all meine Produkte vom Förderband in den Einkaufswagen jongliere, wächst die Zahl der wartenden, mich musternden Personen. Nur noch schnell zahlen… „Karte abgelehnt.“ – „Okay, ich zahle mit der anderen“, sage ich schnell. „Karte abgelehnt.“ Und noch einmal… Mein Herz rast, meine Finger zittern, die Filialleiterin wird geholt und ich bin den Tränen nahe.

Es lag nicht an mir, auch nicht an meiner Karte, das Kartenlesegerät hatte einen Defekt und brauchte einen Neustart. Unter anderen Umständen hätte ich mich vielleicht geärgert oder hätte zumindest nach geglückter Mission erleichtert und lachend das Geschäft verlassen. Diesmal aber schluchzte ich danach ins Handy: „Kann denn die Scheiße bitte endlich aufhören?!“

 

Wenige Wochen zuvor fing sich eine meiner Töchter eine zunächst harmlose Viruserkrankung ein. Sie entwickelte aber eine dermaßen heftige allergische Reaktion auf die fiebersenkenden Medikamente, dass ich befürchtete, sie ins Spital bringen zu müssen.

Kaum war das abgewendet, musste ich die Rettung für ein anderes, plötzlich erkranktes Familienmitglied rufen.

Dabei war uns schon einige Wochen davor das Schlimmste passiert: Ein Mensch, den wir sehr geliebt haben, starb völlig unerwartet und viel zu früh.

 

„Bis jetzt war mein Leben behütet verlaufen. Aber offenbar gab es unsichtbare Kräfte und Strömungen, die alles schlagartig verändern konnten. Denn es schien Familien zu geben, die vom Schicksal verschont blieben und andere, die das Unglück auf sich zogen. Und in dieser Nacht fragte ich mich, ob meine Familie auch so eine war“, erinnert sich Jules zurück. Die Zeilen entstammen Benedict Wells‘ großartigem Roman „Vom Ende der Einsamkeit“. Der Erzähler blickt darin auf seine Kindheit zurück – auf die Zeit, bevor seine Eltern jung ums Leben kamen.

 

„Schlimme Erfahrungen als Pechsträhne zu labeln, kann eine durchaus entlastende Funktion haben und eine psychohygienisch sinnvolle Herangehensweise sein“


Fotos: Pinterest & Pexels /Shvetsa




Die Anziehung von Unglück

 

Wenn’s kommt, kommt’s dicke. Oder zynisch: Wenn’s läuft, dann läuft’s. Nicht bloß den einen Tag, an dem die Lieblingstasse zerbricht oder man eine Hauptzutat für das geplante Abendgericht nicht bekommt, sondern eine Aneinanderreihung von schlimmen Erfahrungen, von Schicksalsschlägen.

Was steckt hinter dem Phänomen Pechsträhne, die manche mehr, andere weniger heimsucht? „Das Leben ist nicht gerecht. Das beginnt schon bei den Startbedingungen, ob man gleich einen schweren oder leichteren Rucksack mit auf den Weg bekommt oder was etwa die Zufälligkeit betrifft, wo auf diesem Erdball wir gelandet sind“, sagt Psychologin und Psychotherapeutin Aglaja Przyborski, die auch an der Bertha von Suttner Privatuniversität St. Pölten lehrt.

Ein winziger statistischer Exkurs: Das Deutsche Ärzteblatt zitiert aus einer spannenden Studie der niederländischen Bewegungswissenschaftlerin Ellen Visser von der Universität Groningen, in der sozusagen „Pechvögel“ analysiert wurden. Visser wertete 79 Studien aus, in denen Missgeschicke von 147.000 Menschen aus 15 Ländern untersucht wurden, und stellte fest, dass einer von 29 Menschen häufiger Missgeschicke erfährt als andere.

 

Einen anderen interessanten Aspekt lieferte Walter Krämer, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Universität Dortmund, in einem Interview mit der „Welt“. Darin wurde die vermeintliche Häufung von Unfällen analysiert – die Erkenntnis daraus lässt sich aber durchaus auf Biografien und Schicksale ummünzen. „Es gibt immer Phasen mit Häufungen. Eine gleichmäßige Verteilung von ähnlichen Ereignissen ist sogar extrem unwahrscheinlich“, sagte Walter Krämer. Die „Klumpungen“ produziere allein der Zufall. Zudem neigen wir dazu, Dinge miteinander in Zusammenhang zu bringen, die gar nichts miteinander zu tun haben; das nennt man dann selektive Wahrnehmung. Wenn ich nun an das eingangs beschriebene persönliche Beispiel denke: Was hat ein defektes Kartenlesegerät an der Kassa mit einem zuvor erlebtem persönlichen Schicksalsschlag zu tun? Nichts. Nur, dass beides derselben Familie passiert ist, deren Sinne nach einem schmerzhaften Verlust für negative Ereignisse geschärft sind.



Spiegelbild Scherben Pechstähne
Foto: Pexels | Kagan Karatay

Die Pechsträhne als gute Strategie

 

„Schlimme Erfahrungen als Pechsträhne zu labeln, kann eine durchaus entlastende Funktion haben und eine psychohygienisch sinnvolle Herangehensweise sein“, erklärt Przyborski. Man hat in fordernden Phasen nicht nur die eine Schwierigkeit zu bewältigen, sondern oft auch das Gefühl, dass einem das Leben aus der Hand gleitet, dass Dinge passieren, die man nicht kontrollieren kann. „Kontrollverlust ertragen wir Menschen sehr schwer, da werden verschiedene psychische Mechanismen in Gang gesetzt. Spricht man von einer Pechsträhne, hilft man sich selbst mit dieser Benennung. Das ist schon einmal besser als Trauma-Reaktionen. Denn in sehr traumatisierenden Situationen reagieren Menschen oft so, dass sie sich auch noch selbst die Schuld geben: ,Hätte ich doch das und das gemacht, dann wäre alles anders gekommen …‘, zum Beispiel. Wer aber von einer Pechsträhne spricht, gibt dem Kontrollverlust sozusagen einen Rahmen. Da weiß man, auch andere haben solche Phasen im Leben, die gehen wieder vorbei. Ich kann die Pechsträhne selbst zwar nicht kontrollieren, aber mich gewissermaßen für die nächste Enttäuschung wappnen. Sie kommt nicht mehr völlig unvorhergesehen“, sagt Przyborski.

 

Umgekehrt gelingt es uns kaum automatisch, in Phasen ohne „Pech” die vielen Dinge, die täglich gut laufen, intensiv und bewusst zu würdigen. Wieso ist das so? „Das ist leider simpel: weil es die Unterschiede sind, die wir wahrnehmen“, erklärt Przyborski und beschreibt ein Beispiel: Wenn eine Person im Sommer jeden Tag schwimmen geht, dann hat sie dabei an einem Tag bessere, an einem anderen vielleicht schlechtere Laune, obwohl sie immer in derselben prachtvollen Natur ist. Wenn die Person aber den ganzen Sommer beispielsweise in ihrer Studierstube sitzt, um eine aufwändige Arbeit zu schreiben, und bloß ein einziges Mal schwimmen gehen kann, „wird sie dabei ziemlich sicher glücklich sein, den Unterschied erleben“.

 

„Das Programm, welches uns das Lustprinzip aufdrängt, glücklich zu werden, ist nicht zu erfüllen, doch darf man – nein, kann man – die Bemühungen, es irgendwie der Erfüllung näherzubringen, nicht aufgeben“


Apropos Glück

 

Sigmund Freud schrieb 1930 in „Das Unbehagen in der Kultur“, einer seiner bekanntesten Abhandlungen: „Man möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch ,glücklich‘ sei, ist im Plan der ,Schöpfung‘ nicht enthalten.“ Demnach sind wir nicht automatisch für Glück „ausgestattet“, aber wir streben danach: „Das Programm, welches uns das Lustprinzip aufdrängt, glücklich zu werden, ist nicht zu erfüllen, doch darf man – nein, kann man – die Bemühungen, es irgendwie der Erfüllung näherzubringen, nicht aufgeben“, schreibt Freud weiter.

 

Ob nun Glück oder Unglück, essenziell ist immer auch, vor welchem Hintergrund wir was wahrnehmen, betont Przyborski. „Es gibt Menschen, die sozusagen sehr intensiv spüren und fühlen, sie sind oft sogar die psychisch Robusteren, wenngleich das gesellschaftlich kaum affirmiert wird. Menschen, die ihre Gefühle intensiv zulassen, werden oft komisch beäugt. Sie passen nicht in die Norm, in die Normalvorstellung davon, wie Menschen zu sein haben, Menschen zeigen hier keine großen Amplituden.“ Und immer gilt es zu beleuchten und zu hinterfragen, „was eine Erfahrung für das jeweilige Leben, für die Person mit ihrer Wahrnehmung und ihrer psychischen Konstitution bedeutet.“ Die – mitunter inflationäre – Verwendung des Begriffs Resilienz berge die Gefahr des Irrglaubens, man könnte von außen wahrnehmen, ob eine Situation für jemanden schwierig ist oder nicht, ob die Person darauf resilient reagiert oder nicht, gibt Aglaja Przyborski zu bedenken.

Zuletzt fanden viele Begriffe aus der Psychologie den Weg in die Alltagssprache, nicht selten führt das aber dazu, dass Menschen leichtfertig pathologisiert werden, dass etwa jemandem vorschnell eine Depression zugeschrieben wird. „Beispielsweise nach dem Verlust eines geliebten Menschen in eine Phase der tiefen Trauer, der Antriebslosigkeit, der Ausweglosigkeit und ein Stück weit sogar in eine Phase der Sinnlosigkeit zu geraten, ist angemessen. So reagiert die Psyche auf Verlusterfahrungen, daran ist nichts Pathologisches im Sinn einer ‚Depression‘, die einen krankheitswertigen Zustand bezeichnet.“


 

Neonschrift It is what it is
Foto: Pinterest

Gute Auswege

 

Ihren Studierenden erklärt die Psychotherapie-Professorin die Unterschiedlichkeit der Wahrnehmungen und damit der Realitäten anderer Menschen anhand einer Metapher: Eine Party ist faktisch für alle eine Ansammlung von Menschen mit Musik. Ein kleines Kind sieht dort nur Beine, ein Erwachsener hingegen Gesichter. „Ich kann nicht von vornherein wissen, wer was wie erlebt, ich muss mich auf die jeweilige Perspektive einlassen, das bedeutet Arbeit. Nämlich darauf zu verzichten, alles schon vor einer Begegnung zu wissen.”

Arbeit, die sich (nicht nur) in Krisensituationen vielfach bezahlt macht. „Persönlichkeitsentwicklung, Selbsterfahrung, Psychotherapie – all diese Dinge tragen mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Verbesserung der Lebensqualität bei“, sagt Przyborski. Vor Jahren schon stellte eine aufwändig gestaltete Untersuchung unter Beweis: Ab einer Psychotherapie-Dauer von etwas mehr als 2,5 Jahren scheinen die Menschen signifikant seltener im Gesundheitssystem auf und haben weniger Krankenstände. Sie werden also nicht nur psychisch, sondern auch physisch gesünder; die Auseinandersetzung mit sich selbst hilft, sich selbst in seiner Gesamtheit, aber auch seine Umwelt und andere exakter wahrzunehmen und exakter zu reagieren. „Wenn ich meine inneren Bedürfnisse klarer wahrnehmen kann und nicht so stark normativ einordne, wenn ich beispielsweise meine Erschöpfung als solche erkenne und nicht als Faulheit umdeute, kann ich auch sinnvoller darauf reagieren. Damit stehe ich besser im Leben und habe mehr Kraft, es so zu gestalten, dass sich die Lebensqualität verbessert.“ Eine unverzerrte Wahrnehmung, davon, was einem gut tut, kann auch zu regelmäßigen, stabilisierenden und gesundheitsfördernden Praktiken führen. Da ist sich Aglaja Przyborski sicher. „Vielen gelingt es beispielsweise durch meditative Praktiken wie Yoga, in den Wald zu gehen, oder den regelmäßigen, offenen, ungeschminkten Austausch mit anderen, einen nachhaltig positiven Zugang zur Welt zu finden. Das Positive kann dann sozusagen den Alltag durchströmen, sodass man etwa eine schöne Situation mit seinen Lieben, aber auch in der Arbeit, bewusster wahrnimmt. Es kann sich quasi ein Automatismus im Geist einstellen, der dann auch bei Kleinigkeiten sagt: Ah, da ist das Gute wieder.“ 



Im Gespräch mit


Aglaja Przyborski
© Viktória Kery-Erdélyi 

Aglaja Przyborski ist Psychologin, Kulturwissenschaftlerin, Universitätsprofessorin für Psychotherapie an der Bertha von Suttner Privatuniversität St. Pölten sowie Psychotherapeutin und Lehrtherapeutin in Wien. Neben der Leitung einer Vielzahl von Forschungsprojekten veröffentlicht sie wissenschaftliche Papers auf den Gebieten Psychotherapie-, Medien- und Sozialforschung.




Unsere Autorin


Viktória Kery-Erdélyi 
© Vanessa Hartmann

Viktória Kery-Erdélyi wurde in Ungarn geboren und kam mit zehn Jahren nach Österreich. Sie studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft. In ihrer Diplomarbeit befasste sie sich mit den Geschlechterverhältnissen bei Marivaux und stellte die Frage: „Sie sagen, Sie sind nur eine Frau, was wollen Sie denn Besseres sein?“ Nach 10 Jahren als Redakteurin bei der Tageszeitung Kurier wechselte sie als freiberufliche Journalistin in die Magazinbranche. Ihre Arbeit zeichnet sich durch viel Feingefühl aus. Viki sagt: „Jede Begegnung mit Menschen, die mir über ihr Leben erzählen und beschreiben, wofür sie brennen, ist ein Geschenk und ich bemühe mich, mit Demut vor dem geschriebenen Wort ihre Geschichten festzuhalten.“

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