TEXT: LISA REINISCH
Was wir von Virginia Woolf über Humor, Lebenslust und innere Freiheit lernen können.
Virginia Woolf (1882-1941) war eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen, Feministinnen und Literaturkritikerinnen des 20. Jahrhunderts. Eine kaum zu überblickende Vielzahl von Filmen, Romanen, Theaterstücken, Kunstwerken, Performances, akademischen Abhandlungen und, seit neustem, sogar NFTs beruhen auf ihrem außergewöhnlichen Leben und Schaffen. Der Großteil davon dreht sich um die dunklen Aspekte von Woolfs Dasein: Verlust, Wahnsinn, Selbstmord. Die Höhenflüge ihres schillernden Lebens bleiben meist unerwähnt.
Was nur wenige wissen: Woolf liebte das Leben. Die Aussagen und Aufzeichnungen derer, die sie gut kannten, zeigen eine Frau voller Neugier, Witz und Charme. Auch ihre Werke deuten darauf hin, dass das posthume Image dieser facettenreichen Frau viel zu einseitig ausgefallen ist: von der proto-queeren Gesellschaftssatire „Orlando“ (1928), über das Feuerwerk der feministischen Geistesblitze „Ein Zimmer für sich allein“ (1929), bis zu den sinnlichen Bewusstseinsströmen von „Die Wellen” (1931).
Was weithin bekannt ist: Woolf war seit frühen Jahren traumatischen Erlebnissen ausgesetzt – sexueller Missbrauch durch Stiefbrüder, der Tod ihrer Mutter und von zwei Geschwistern, zwei Weltkriege –, die zu wiederkehrenden psychotischen Episoden und chronischen Schmerzen führten. Aus heutiger Sicht ist klar, dass auch die unzureichenden und mitunter menschenfeindlichen Behandlungsmethoden ihrer Zeit dazu beigetragen haben, dass Woolf sich schließlich das Leben nahm. Statt zuzugeben, dass ihre psychischen und physischen Gesundheitsprobleme mit einer traumatischen Kindheit zusammenhingen, wurde ihr eine vererbte Geisteskrankheit und ein eigenwilliger Charakter diagnostiziert. Wie unzählige andere Frauen ihrer Epoche war Woolf ein Opfer der abwertenden Behandlung von Frauen durch Ärzte und einem Mangel an gesellschaftlichem Schutz und Verständnis.
Man fragt sich: Wie hätte Woolfs Vermächtnis ausgesehen, wenn ihr Leiden nicht als Hysterie und weibliche Schwäche abgetan worden wäre? Wie würden wir auf diese Ikone zurückblicken, wenn unser heutiges Bild auf ihren Stärken beruhen würde, statt auf ihren Schicksalsschlägen?
Eine lebenslustige, witzige und manchmal leicht bösartige Person
Woolfs Neffe Cecil (1927–2019), einer der letzten Zeitzeugen, der die große Schriftstellerin noch persönlich kannte, beschrieb seine berühmte Tante so: „Trotz ihres eher düsteren Aussehens konnte Virginia Woolf äußerst witzig sein, und das Bild, das manche von ihr haben, nämlich das einer traurigen und tief deprimierten Frau, ist falsch.” (Ich denke da an Nicole Kidman in „The Hours“.) Ganz im Gegenteil. Leonard erinnerte sich, dass Virginia während des Ersten Weltkriegs, als sie im Keller ihrer Londoner Unterkunft Schutz vor feindlichen Bombenangriffen suchten, die Bediensteten so sehr zum Lachen brachte, dass er sich beschwerte, er könne nicht schlafen. „Ich habe sie als eine lebenslustige, witzige und manchmal leicht bösartige Person in Erinnerung.“
Niemand würde behaupten wollen, Woolfs Leben wäre ein Spaziergang in der Sonne gewesen. Doch manche ihrer Arbeiten, wie zum Beispiel ihre legendären Literaturkritiken und ihre hinreißenden Liebesbriefe, zeigen uns eine andere Seite von Woolf: keck, irreverent, verschmitzt, leidenschaftlich. Woolfs Lichtseite hält durchaus Anstöße für unsere auch nicht gerade unkomplizierte Gegenwart bereit. Was also können wir von Woolf über die Kunst des guten Lebens lernen?
Immer wieder Neuland betreten
Woolf experimentierte immerzu, legte sich nie auf eine Stilrichtung fest. Mit jedem ihrer Bücher schlug sie einen völlig neuen Weg ein, eroberte Neuland. Eine außergewöhnliche Herangehensweise, die sie schließlich an die Spitze der Avant Garde des 20. Jahrhunderts führte. Wie James Joyce, D. H. Lawrence, Marcel Proust und Dorothy Richardson warf Woolf vieles über Bord, was bis dahin in der Literatur, speziell im Roman, als unentbehrlich galt: Personen- oder Ortsbeschreibungen, dramatische Höhepunkte, Schlussfolgerungen. Nicht nur die Inhalte und der Stil, auch die Struktur der Texte wurden dekonstruiert.
Thematisch überschritt sie auch eine Grenze nach der anderen. Geld, Politik, Sex, Geschlecht, Geisteskrankheit – von Tabus ließ sie sich nicht stoppen. Woolf beschrieb Standpunkte und Lebensstile, die ihrer Zeit Generationen voraus waren, wie etwa Gender-Fluidität, sexuelle Befreiung und Feminismus. Als Pionierin der modernen Literatur und eines der wichtigsten Mitglieder der Bloomsbury Group setzte sie sich für kompromisslose künstlerische Experimente ein und betrieb politischen Aktivismus. Sie war überzeugte Pazifistin und Anti-Faschistin, die aktiv darum kämpfte, den sozialen Fortschritt der 1920er auch in den darauffolgenden regressiveren Zeiten aufrechtzuerhalten.
In Woolfs Worten:
„Wir können euch am besten helfen, den Krieg zu verhindern, indem wir nicht eure Worte wiederholen und eure Methoden befolgen, sondern neue Worte finden und neue Methoden entwickeln.“
Neugierig altern
Neugier war die Treibkraft, die es Woolf erlaubte, so tief in die inneren Welten ihrer Charaktere einzutauchen – egal ob Mann, Frau, Kind oder sogar Tier. „Flush“ (1933), einer ihrer populärsten Romane, ist die Biografie eines gleichnamigen Cockerspaniels, dem Haustier der viktorianischen Dichterin Elizabeth Barrett Browning. Diese verspielte Entdeckungsfreude zeugt von einer ureigenen Lust am Leben und Schaffen, am Lernen und Lehren, selbst in einer Zeit, in der hasserfüllte Ideologien um sich griffen.
Woolfs Wissensdurst machte sie nicht nur zu einer guten Beobachterin und Zuhörerin, sondern auch zu einer gierigen Konsumentin von Kunst und Medien. Sie verschlang Bücher aller Art, von den Werken der alten Griechen über zeitgenössische Romane bis hin zu massenproduziertem Schund. In dem Essay „Stunden in einer Bibliothek“ erklärt sie, dass nicht nur die hochgeistige Literatur, sondern auch schlechte Bücher unser „stilles Leben“ durch „unbeschreibliche Genüsse“ bereichern können. Als Literaturkritikerin für das Times Literary Supplement war sie großzügig und empathisch gegenüber Autor*innen, deren Werke ihr missfielen. Für sie war der Enthusiasmus „das Herzblut der Kritik“ und Lob sollte in jedem Fall das letzte Wort haben. Jede Buchrezension, so hielt sie in ihrem Tagebuch fest, war „ein Akt, um vor meinem Tod zu bezeugen, wie viel Spaß und Freude mir meine Lesegewohnheit bereitet hat“.
In Woolfs Worten:
„Ich glaube nicht an das Altern. Ich glaube daran, dass man seinen Aspekt zur Sonne immer wieder neu ausrichtet. Daher mein Optimismus. Und um mich jetzt zu verändern, sauber und vernünftig, möchte ich diese lose lebende Zufälligkeit ablegen: Menschen, Kritiken, Ruhm, all die glitzernden Maßstäbe, und zurückgezogen und konzentriert sein.“
Unfug tut gut
Humor war einer von Woolfs schärfsten Instinkten. Zu Lebzeiten war sie sogar der Meinung, ihr Ruf könnte einst auf ihren satirischen Impulsen beruhen und dass sie möglicherweise als Humoristin in Erinnerung bleiben würde. Woolf nutzte Humor bewusst als Bewältigungsinstrument und stellte sich den Ungerechtigkeiten, der Gewalt und den Verlusten ihrer Zeit mit Witz – sowohl im Leben als auch in der Literatur. Trotz aller schlimmen Erlebnisse sind Woolfs Schriften gespickt mit Momenten von Leichtigkeit und Ausgelassenheit.
Woolf hatte außerdem eine Vorliebe für praktische Streiche. 1910 treibt es die damals 28-Jährige gemeinsam mit ihrem Bruder und seinen Freunden mit dem sogenannten „Dreadnaught Hoax“ auf die Spitze: Verkleidet als afrikanische Prinzen verschaffte sich die Gruppe Zutritt an Bord der H.M.S. Dreadnought, wo sie sich sogar eine offizielle Führung durch das damals berühmteste Schlachtschiff der Nation erschwindelten. Der Vorfall führte zu einer für die britische Marine ausgesprochen peinlichen internationalen Berichterstattung und ging als pazifistischer Protestakt gegen Kriegstreiberei, Kolonialismus und Patriarchat in die Geschichte ein.
Die Tatsache, dass die Aktivisten „Blackface“ einsetzten, um einen politischen Punkt zu machen, wurde erst später als problematisch erkannt und zurecht kritisiert. Trotzdem offenbart der Vorfall den Stellenwert von Lauserei für Woolf und ihr Umfeld. Auch heute wirkt medial wirksam gemachter Unfug als Ventil für gesellschaftliche Spannungen.
In Woolfs Worten:
„Schreiben ist wie Sex. Zuerst tut man es aus Liebe, dann für seine Freunde und dann für Geld.“
oder
„Ich habe gestern Abend das Buch Hiob gelesen, und ich glaube nicht, dass Gott darin gut wegkommt.“
Den Mut haben, man selbst zu sein
Die meiste Zeit ihres Lebens musste Woolf ihre Sexualität geheim halten. Die Bloomsbury Group pflegte einen liberalen Umgang mit Körperlichkeit und Sex, einige Mitglieder waren homosexuell oder experimentierten mit freier Liebe. Zu dieser Zeit war all das jedoch nicht nur tabu, sondern auch illegal. Nur der innerste Kreis der „Bloomsberries“ wusste also, dass Woolf Beziehungen sowohl mit Männern als auch mit Frauen führte.
Mit ihrem Mann Leonard, den sie 1912 heiratete, verband Virginia eine aufrichtige, jedoch platonische Liebe – sie blieben sich loyale Lebenspartner, führten gemeinsam ihr Verlagshaus, die Hogarth Press, pflegten jedoch Liebschaften außerhalb der Ehe. Unzählige Liebesbriefe und Tagebucheintragungen zeugen von den widersprüchlichen Gefühlen, die Woolf im Laufe ihres Lebens in Bezug auf ihre intimen Beziehungen erlebte.
Woolfs jahrelange Liaison mit der Society-Lady Vita Sackville-West inspirierte sie zu „Orlando“, einem satirisch-experimentellen Theaterstück, in dem sich die gleichnamige Hauptfigur über mehrere Jahrhunderte hinweg vom Mann zur Frau verwandelt. Woolfs pionierhafte Auseinandersetzung mit der Fluidität von sexuellen Identitäten hat nach wie vor einen ermutigenden Einfluss auf queere Autor*innen und alle, die sich nach mehr Freiheit sehnen.
In Woolfs Worten:
„Der Mensch, der sich seiner selbst bewusst ist, ist von nun an unabhängig; und er langweilt sich nie, und das Leben ist nur zu kurz, und er ist durch und durch von einem tiefen, aber gemäßigten Glück durchdrungen.“
Die Kleinigkeiten des Alltags schätzen
Woolf lehrt uns außerdem Achtsamkeit und Dankbarkeit für scheinbar banale Momente in unserem Alltag. In ihren Essays und Romanen verleiht sie häuslichen Szenen oft tiefe Bedeutungen, enthüllt die verborgene Schönheit gewöhnlicher Gegenstände. Sie regt uns dazu an, jede Erfahrung im Hier und Jetzt mit allen Sinnen zu erfassen und unsere Augen offen zu halten für unverhoffte Momente des Glücks und des Staunens.
In Woolfs Worten:
„Das Glück liegt in den stillen, gewöhnlichen Dingen. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Buch mit einem Papiermesser zwischen den Seiten. Und das Blütenblatt, das von der Rose fällt, und das flackernde Licht, wenn wir still dasitzen.“
Virginia Woolf für Einsteiger
Virginia Woolfs Vermächtnis inspiriert uns, die Welt mit einer Mischung aus kritischem Geist und leidenschaftlicher Neugier zu betrachten. Sie zeigt uns, wie Humor und Ironie uns durch die Härten des Lebens tragen, wie wir mit Intelligenz und Witz gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten angehen können. Woolf ermutigt uns, immer wieder Neuland zu betreten – in unseren Gedanken ebenso wie in unseren Taten. Das Gesamtkunstwerk Woolf ist eine Inspirationsquelle für alle, die sich selbst und die Welt besser verstehen wollen.
Es stimmt, manche von Woolfs Büchern sind nicht gerade leichte Kost. Ein Rat an Leser*innen, die jetzt Lust bekommen haben, sich dieser Ikone literarisch anzunähern: Für den Anfang eignen sich besonders Woolfs Essays, Briefe und ihr feministisches Meisterwerk „Ein Zimmer für sich allein“.