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Alltagsdroge Instagram: Wenn ich nur aufhören könnt!

TEXT: KATHARINA SABETZER


Nach Jahren der Euphorie, Essens- und Urlaubsfotos: Kann der Nutzen von Social Media noch gerechtfertigt werden oder überwiegt das Risiko mittlerweile die digitalen Vorteile?


Handy | Social Media | Smartphone | Digital | Sucht | Online | Toni Hukkanen | myGiulia
Foto: Toni Hukkanen / unsplash

„Können Sie es schon beim Lesen dieser Zeilen spüren, dieses Flattern hinter dem Brustbein? Eine Mischung aus Unruhe, latenter Unzufriedenheit und diffuser Angst, während Sie gleichzeitig nicht aufhören können zu scrollen, auf der Suche nach dem nächsten Kick?“, fragt die titelgebende Stella in Ellen Dunnes aktuellem Irland-Krimi „Unfollow Stella“, der sich auf die dunkle Seite der sozialen Medien begibt, nämlich in die Content-Moderation, die uns das vergnügliche Scrollen, die lustigen Videos, das vermeintliche Zerstreuen überhaupt erst ermöglicht.

Wir kennen dieses Flattern, oder? Wir wissen genau, wo es hinter unserem Brustbein sitzt. Und dass es in letzter Zeit immer häufiger wird, sich auch ohne Bildschirm vor der Nasenspitze bemerkbar macht, uns bei der Kinderbetreuung begleitet, ins Restaurant, auf die Rolltreppe, vor den Fernseher. In die Nachtruhe. 

Die vermeintlich einfache Lösung, unser Hirn mit noch mehr Content abzulenken, beruhigt uns. Vorübergehend. Bis das Flattern wieder beginnt.



Die hausgemachte Droge


Rein naturwissenschaftlich gesehen, haben unser häufiger Griff zum Smartphone sowie die damit verbundene Nervosität eine simple Erklärung: Dopamin, ein körpereigener Stoff, der mitunter auch als „Botenstoff des Glücks“ bezeichnet wird, da er lustvolle Erfahrungen – Freude, erreichte Ziele, Lob etc. – begleitet. 

Wir sind umgeben von Möglichkeiten, den Lustgewinn tagtäglich, wenn nicht sogar minütlich, zu steigern: angefangen bei Computerspielen über Likes, die wir für Postings erhalten, bis hin zur schlichten Unterhaltung beim Scrollen. Die vielen Reize unserer digitalen Möglichkeiten überhäufen uns mit Dopamin-getränkten Erfahrungen. Jedoch: „Das Problem ist, dass das Gehirn auf jede Abweichung vom Ausgangswert an Dopamin reagiert. Es will immer eine Balance herstellen“, erklärt die Suchtexpertin Anna Lembke in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. „Selbst unschuldige Beschäftigungen, die wir für lehrreich halten, können zu einem Suchtkreislauf führen“, so die Expertin und meint damit unter anderem auch Bücher und Serien, die mit Cliffhangern zum zwingenden Weiterlesen und -schauen überreden. 



Person | Junger Mann | Verzweiflung | Müdigkeit | Social Media | Sucht | Adrian Swancar | myGiulia
Foto: Adrian Swancar / unsplash

Die Gier nach Neuem mit dem gewissen Twist


Wir lassen uns von den wie zufällig ausgewählten Content-Angeboten mitreißen, ablenken, unterhalten, trösten, aufwühlen. Immer auf der Suche nach etwas eigentlich Undefinierbarem. „Im 21. Jahrhundert ist Serendipität die digitale Form der Neugier im Wortsinn: die Gier nach Neuem – mit einem Twist, der durch die Content-Fülle des Internets ausschlaggebend geworden ist. Neu reicht nicht, es muss neu und für die jeweilige Person interessant sein, denn eigentlich ist nichts individueller als die Befriedigung von Neugier“, schreibt etwa Sascha Lobo im „Spiegel“ . Dopamin sei „eine Droge, wenn auch aus körpereigener Herstellung. Darüber hinaus noch legal“, hält auch Stella in „Unfollow Stella“ fest. „Mit Dopamin und seiner Wirkung zu spielen ist – zumindest noch – nicht illegal.“


Und so befinden wir uns in einem Perpetuum mobile an Wechselwirkungen. Als Nutzer*innen füttern wir die Algorithmen, die sich mittlerweile (rein technisch betrachtet sensationell) individuell an unsere Bedürfnisse anpassen. TikTok gilt dabei derzeit als Maß aller Dinge. „Die Immersivität von TikTok, das Video über den ganzen Screen zu zeigen und automatisch mit Ton abzuspielen, ist Teil des Erfolgsgeheimnisses. Das bedeutet nämlich, dass man sich zu jedem einzelnen Inhalt auf TikTok verhalten muss und damit Daten über die eigenen Interessen preisgibt“, erklärt Sascha Lobo zum Thema, warum TikTok so problematisch ist.


„Niemand kennt uns so gut wie der Algorithmus unserer Apps."

Wir senden Daten. Rund um die Uhr. Und selbst dann, wenn wir uns nicht aktiv an der Content-Produktion beteiligen. Unsere Apps wissen, wohin wir auf Urlaub fahren, ob wir Single sind oder verheiratet, ob wir Kinder, Eltern oder Hunde zu betreuen haben, ob wir gerne weniger schnarchen, essen, arbeiten möchten, welche Bücher wir gerne lesen würden, welche Möbel, Schuhe, Nackenstützen uns gefallen.

Sie wissen, wenn wir uns trennen, wenn wir trauern, in welcher Zyklusphase wir uns befinden, wenn wir einfach nur so schlecht gelaunt sind. Und mitten in diesem Pendel aus selektiver Wahrnehmung und auf uns abgestimmten Algorithmen, verstärken Social Media unsere Gefühle und belohnen uns auch mit vermeintlicher Aufmerksamkeit. 


„Das überinformierte Hirn behält unseren Organismus in Dauerbereitschaft. Überspannt. Angespannt. Loslassen und schlafen passen nicht in diesen Stromkreislauf. Man könnte ja etwas verpassen."

Und wie gehen wir damit um? Wir dröhnen uns durchgehend mit noch mehr Geschichten zu: mit detaillierten Videos und Berichten aus Kriegsgebieten, Gerichtssälen, Backstagebereichen diverser Award-Shows. Bücher sind digital rund um die Uhr konsumierbar. Filme, Serien, True Crime-Trara – alles ist jederzeit verfügbar. Füttert uns mit Informationen, Inhalten, Emotionen.



FOMO


Wir sind ständig verbunden, zählen unsere Follower*innen und Likes, sind aber dabei mit kaum jemandem „in echt“ in Kontakt. Wir verbergen unsere Emotionen hinter zynischen, sarkastischen oder weichgezeichneten Posts, die zwar Gefühle andeuten, aber niemals so eindringlich und beziehungsfördernd sind, wie mit der besten Freundin zu lachen oder vor dem eigenen Kind Schwäche zu zeigen.

Niemand kennt uns so gut wie der Algorithmus unserer Apps.

Die Müdigkeit aufgrund der unser Scrollen begleitenden emotionalen Reizüberflutung ist bereits so gewöhnlich, dass wir den leichten Nebel im Kopf als normal empfinden. Man würde ja länger schlafen, wenn man es tatsächlich benötigen würde. Der Körper weiß doch, was wir brauchen. Das überinformierte Hirn behält unseren Organismus jedoch mittlerweile in Dauerbereitschaft. Überspannt. Angespannt. Loslassen und schlafen passen nicht in diesen Stromkreislauf. Man könnte ja etwas verpassen.


Inspiration | Zeichen | Spruch | Austin Chan | myGiulia
Foto: @austin.chan/unsplash

Diese unsere mit Dauerreizen gefütterte Gesellschaft ist im Jahr 2024 in vielen Regionen der Welt aufgefordert, politische Entscheidungen zu treffen, neue Regierungsvertreter*innen zu wählen. Inmitten digital zelebrierter Polarisierungen. Themen also, die „so angespitzt werden, dass sie umgehend im Zentrum der politischen Debatte landen. Das ist das, was Leute machen, die wir Polarisierungsunternehmer nennen. Die greifen ein Unbehagen gegenüber bestimmten Veränderungen der Gesellschaft auf und stellen es so zentral, dass die Menschen ihre ganze politische Position daran ausrichten“, erklärt etwa der Soziologe Steffen Mau in der Süddeutschen Zeitung, warum wir über Binnen-Is und Lesungen von Drag Queens tagelang diskutieren können. Tatsächlich verneint der Soziologe das Gefühl, dass wir in einer polarisierten Welt leben. Vielmehr treten die radikalen Ränder der Gesellschaft deutlicher in den Fokus. Und: „Die gefühlte Polarisierung [kann] eine Antriebskraft für echte Polarisierung sein. Wenn wir alle glauben, dass die Welt in zwei Lager gespalten ist, dann verhalten wir uns politisch auch so – und es wird real.“



Wie gehen wir miteinander um?


Laut einer im Februar 2024 präsentierten Studie der Universität Wien gibt ein Drittel der Befragten an, bereits einmal negative oder beleidigende Kommentare gepostet zu haben. In einem Kreislauf aus Aufmerksamkeit, Bevorzugung durch Algorithmen und dem Gefühl bestärkt zu werden, werden wir digital auch noch dazu motiviert, uns an Diskussionen aller Art mit unumstößlichen, nur wenige Zeichen umfassenden, pointierten Meinungen zu beteiligen. Sich auf schwarz oder weiß, aber niemals auf grau festzulegen, weil für die Schattierungen dazwischen zu wenig Zeit, zu wenig Platz, zu wenig Information verfügbar ist.


Aber die Welt hat doch genau auf unsere Meinung, auf unser Posting, unseren Kommentar gewartet. 

Oder?


Social Media | Icons | Logos | soziale Netzwerke | Ilgmyzin | myGiulia
Foto: ilgmyzin / unsplash

Auch im politischen Kontext bleibt häufiger offen, ob man durch die digitale Empörung über provokante Aussagen einer öffentlichen Person tatsächlich zur Aufklärung und Information beiträgt oder nicht einfach vielmehr dieser einen Person mehr Reichweite als ihr zusteht ermöglicht. Mehr Reichweite als dem Thema angemessen sei. Denn Social Media-Algorithmen unterscheiden nicht zwingend zwischen politisch korrekten und moralisch verwerflichen Informationen. Die Algorithmen sind dazu da, Inhalte zu entdecken, die viele Personen emotionalisieren, und diese Inhalte dann häufiger auszuspielen. Damit wir User*innen möglichst lange in der App bleiben. Und möglichst häufig Werbung sehen.


„In Medienhäusern hat sich vielfach noch nicht herumgesprochen, dass es ein spezielles Krisenmanagement für derartige Treibjagden – ich weiß nicht, wie ich es anders nennen soll – braucht.” - Barbara Tóth (Wochenzeitung Falter)


Die Tempo-Spirale der digitalen Empörung


Die Tempo-Spirale digitaler Empörung dreht sich schnell, immer schneller, ohne Rücksicht auf Verluste oder Menschen, die hinter den Accounts stehen. Bis sie von der nächsten Empörung abgelöst werden. Oder maximalen Schaden angerichtet haben. „In Medienhäusern hat sich vielfach noch nicht herumgesprochen, dass es ein spezielles Krisenmanagement für derartige Treibjagden – ich weiß nicht, wie ich es anders nennen soll – braucht“, schreibt etwa Barbara Tóth im Newsletter des österreichischen Wochenmagazins „Falter“. 

Aber nicht nur Medienhäuser sind angehalten, sich auf den Krisenfall vorzubereiten, vor allem in einer Welt, in der jede Person Content kreieren und veröffentlichen kann, in der persönliche Empfindungen binnen Augenblicken in globale Gefühlswelten, in weltenumspannendes Gut oder Böse umschlagen können, ganz ohne Diskussionsspielraum, ganz ohne diese Grautöne dazwischen. (Erste Hilfe bietet übrigens – auch für ins digitale Kreuzfeuer geratene Privatpersonen – radikales und konsequentes Offlinegehen, die zweite Hilfe sind persönliche Kontakte jeglicher Form. In einem dritten Schritt kann man – wenn nötig – das Beiziehen von Jurist*innen bzw. der Polizei überlegen.)



Angst davor, gecancelt zu werden


„Als mich mein Bruder nach meinen Beweggründen fragte, sagte ich, ich wolle online nicht mehr gesehen werden, Leute nicht mehr online sehen, mich nicht mehr darüber abfucken, warum Nicki mein Selfie nicht geliked hatte, jemand ein Buch publizierte, heiratete, ein Kind bekam, auf die Malediven flog oder darüber, dass ich meine Skin-Care-Routine nie einhielt. Was ich vor allem wollte: Die fundamentale Angst loswerden, gecancelt zu werden. Für irgendwas, was ich einmal getan oder gesagt hatte, oder einmal tun oder sagen würde. Ich hatte das Gefühl, dass meine öffentliche Bloßstellung nur noch eine Frage der Zeit war“, erklärt etwa Mila, Protagonistin in Jenifer Beckers eindringlichem Debüt „Zeiten der Langeweile“, über ihren Social Media-Ausstieg. Natürlich mag diese Angst, gecancelt zu werden, literarisch überzeichnet wirken und wer sich nicht in der Öffentlichkeit bewegt, bietet wenig Angriffsfläche, um öffentlich debattiert zu werden. 


Kamera | Foto | Video | Live | Facebook | Kamera in der Hand | Stickermule | myGiulia
Foto: @stickermule / unsplash

Aber: Worüber diskutieren wir eigentlich Tag für Tag? Vor allem angesichts dessen, wie viele Personen tatsächlich Content kreieren: Nur 25 Prozent der US-amerikanischen Twitter-Nutzer*innen sind für 97 Prozent der Inhalte verantwortlich, 91 Prozent der TikTok-User*innen erstellen nie Videos. (Diese Zahlen von Pew Research stammen aus einem sehr lesenswerten Artikel von Dominik Ritter-Wurnig: Soziale Medien machen keinen Spaß mehr.

Hinzu kommt, dass die Social Media-Nutzung auch nach Herkunft und ethnischer Zugehörigkeit variiert. „Black and Hispanic teenagers ages 13 to 17 spend far more time on most social media apps than their white peers.“ Wobei die Nutzung digitaler Geräte hier auch noch eher als Statussymbol gilt. 

Der Traum vom gleichberechtigten Zugang zur Welt, vom gleichberechtigten, globalen Verbreiten von Informationen abseits des Mainstreams scheint ausgeträumt.



Die Sucht nach dem nächsten Klick


Gleichzeitig verbringen wir alle so viel Zeit online, dass jede*r von uns auf die eine oder andere Art eine Online-Persona kreiert, die an unserer eigenen Wirklichkeit entlangschrammt. Angestellte werden aufgefordert, auf LinkedIn ihre „Brand“ zu definieren und in regelmäßigen Posts zu präsentieren. Künstler*innen werden angehalten, sich mit möglichst vielen kostenfrei verfügbaren Kostproben dem scheinbar aussichtslosen Kampf gegen die Algorithmen auszusetzen, um digitalen Rückenwind für ihre Popularität zu erhalten. 

Entscheidet der Algorithmus also über künstlerische Qualität oder über massentauglichen Geschmack? 

In Elias Hirschls Roman „Content“ programmiert die Protagonistin, die die Aufnahme in eine Schule für kreatives Schreiben nicht geschafft hat, aus Langeweile Bots, die aus online verfügbaren Texten Gedichte kreieren. „Das ist nichts Künstlerisches im herkömmlichen Sinn. Automatisierte Prozesse, die mich von jeder Autorenschaft freisprechen“, erzählt sie im Buch. „Ihre dichterischen Ergüsse unterliegen keiner Instanz und erst recht nicht meiner eigenen. Sie produzieren abertausende Gedichte und Dialoge am Tag. Die meisten davon sind furchtbar, viele rassistisch, sexistisch oder schlicht und einfach endlose Zahlenkolonnen. Jeden Tag, bevor ich schlafen gehe, suche ich mir einige Stellen aus dem ganzen Haufen aus und stelle daraus ein Gedicht zusammen. Das ist der eigentliche künstlerische Prozess: das Kuratieren. Ich stelle mir eine Ausstellung aus Schrott zusammen. Stück für Stück durchsuche ich den Müll nach den wenigen Schmuckstücken.“



Self-promotion sucks!


(Gescheiterte) Künstler*innen versinken also im Sumpf der digitalen Möglichkeiten? „Self-promotion sucks. It is actually very boring and not that fun to produce TikTok videos or to learn email marketing for this purpose“, konstatiert Rebecca Jennings auf Vox.com. „The labor of self-promotion or platform-building or audience-growing or whatever our tech overlords want us to call it is uncomfortable; it is by no means guaranteed to be effective; and it is inescapable unless you are very, very lucky.”


Inspiration | Spruch | Leidenschaft | Ian Schneider | myGiulia
Foto: Ian Schneider / unsplash

Egal, ob man gerade ein Yogastudio eröffnet hat, einen Krimi selfpublished oder versucht, Naturkosmetika im Freundeskreis zu vertreiben: Dem Drang, den Algorithmus-gesteuerten Kampf gegen Windmühlen aufzunehmen, ist schwer zu widerstehen. Weil einen ein paar Likes, ein paar freundliche Kommentare stets dazu motivieren, weiterzumachen, die Erwartungshaltung in noch höhere Höhen zu schrauben. Man sitzt spielsüchtig im Casino der digitalen Möglichkeiten, getrieben von der Aussicht auf den Millionengewinn. Je emotionaler, desto besser. 

Dass dabei jede Privatperson dazu motiviert wird, die tatsächlich zwischen Knowhow und Glücksspiel angesiedelte Arbeit von Contentmanager*innen zu übernehmen, wird dabei gerne übersehen.

„Während ich die Top 15 der tödlichsten Flugzeugabstürze zusammenfasse, filmt sich Marta hinter mir, wie sie sich mit Klebstoff die Zähne putzt.“ In seinem aktuellen Roman „Content“ treibt Elias Hirschl die Content-Produktion, das Erstellen sogenannter Listicles („Nummer 7 wird Dich zum Weinen bringen!“) auf die satirische Spitze und lässt uns Leser*innen dabei manchmal (ver)zweifeln, wie weit entfernt wir von dieser überzeichneten Dystopie überhaupt noch sind.



Generation Smartphone


Und mittendrin wächst eine Generation heran, die eine Welt ohne Smartphones gar nicht kennt. Studien zu den Einflüssen des Social Media-Konsums auf das jugendliche Gehirn sowie auf die jugendliche Psyche erkennen zwar Parallelen, fixe Aussagen über kausale Zusammenhänge lassen sich derzeit noch schwer treffen. Konkret heißt das: Die Beobachtungen über psychische Auswirkungen häufen sich, sie sind einfach nur (noch) nicht wissenschaftlich belegt. Der Leiter des öffentlichen Gesundheitsdienstes der Vereinigten Staaten hielt im Mai 2023 dazu fest, dass Social Media tatsächlich Vorteile für manche Jugendliche haben kann, jedoch auch „a profound risk of harm to the mental health and well-being of children and adolescents” darstellt. In diese Kerbe schlägt auch das aktuelle Buch des US-amerikanischen Psychologieprofessors Jonathan Haidt, der ein drastisches Bild der „Generation Angst“ zeichnet (wissenschaftlich nicht gänzlich unumstritten jedoch, siehe diese Debatte: Inside the debate over The Anxious Generation) und damit viele Eltern und Lehrpersonen in ihren Beobachtungen bestätigt.


Kinder | Langeweile | Beschäftigung | Social Media | Aufwachsen mit Social Media | Keren Fedida | myGiulia
Foto: Keren Fedida / unsplash

Content-Disziplin und Alternativangebote


Aber vielleicht ist die Erklärung auch viel einfacher: Wenn wir als Erwachsene bereits unangenehme Gefühle wie Druck, Neid, Trauer, Ausgrenzung oder Abstiegsängste empfinden können, während wir durch Instagram scrollen, wieso sollte ein Kind oder Teenager besser mit diesen aus dem globalen Vergleich entstehenden (und als FOMO verharmlosten) Gefühlen zurechtkommen?

Eltern sind in aller Ernsthaftigkeit gefragt, die in Selbstdisziplin noch ungeübten Jugendlichen in Content-Disziplin zu üben. Weil eben Entwicklungsstörungen nicht gänzlich ausgeschlossen werden können. Empfehlungen dafür, wie viele Stunden am Tag ein Kind oder ein*e Jugendliche*r mit Bildschirmzeit verbringen sollte, ändern sich jährlich und je nach Ansprechpartner*in. Einig ist man sich jedoch darüber, dass die Zeit vor dem Schlafengehen möglichst analog verbracht werden sollte. In jedem Fall ist es – wie bei den meisten Entwöhnungen – immer auch eine Frage des Alternativangebots. 

Vorbildhaftes Verhalten der Erwachsenen sowie medienfreie gemeinsame Mahlzeiten sind die am häufigsten genannten Tipps für Familien, wie der digitale Konsum für alle (!) kontrolliert werden kann. Wenn Alltag und Freizeit jedoch so deutliche Einschränkungen erleben, dass berufliche oder schulische Verpflichtungen beziehungsweise (analoge) Pläne mit Freund*innen nicht mehr wahrgenommen werden können, ist es an der Zeit, fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das kann therapeutische Begleitung sein oder das Einholen von Informationen bei Social Media-Coaches. 



Ist jede*r süchtig?


Wir unterhalten uns über die Auswirkungen von Social Media auf Erwachsene wie Jugendliche meist anhand von Extrembeispielen: Jugendliche mit mehreren hundert Follower*innen, aber keiner einzigen realen Freundschaft; Häufungen von Angstzuständen, depressiven Episoden, Suizidgedanken; psychische Erkrankungen, die von TikTok-Influencer*innen täuschend echt kopiert werden, Cyber-Mobbing wie -Stalking, Love Scamming und so vieles mehr! 

Wie bei jeder bekannten Sucht bemüht man sich bei der Eigenbetrachtung erstmal um Rationalisierung. Probleme haben die anderen. Die allgemein negative Stimmungslage kann ja auch am Job oder der Weltpolitik liegen, die Schlaflosigkeit an aktuellen Sorgen um Angehörige oder Freund*innen. Etwas mehr Sport hier, ein Nahrungsergänzungsmittel dort, ein anderer Job, ein anderer Lebensstil, eine andere Jahreszeit würden schon helfen. 


Handy | Smartphone | Pool | Orangen | Social Media | Sucht | Khiet Tam | myGiulia
Foto: Khiet Tam / unsplash

Denn der Abschied von Instagram ist harte Arbeit. Und mitunter schmerzhaft. Nach der anfänglichen Erleichterung über den wegfallenden Druck bleibt man während der dauerhaften Entwöhnung dennoch relativ allein in einer überraschend intensiven Gefühlswelt zurück, über die man sich nun nicht einmal mehr austauschen kann, da man ja gefühlt alle Verbindungen zur Außenwelt gekappt hat. Und der bewährte Rückzug vor negativen Gefühlen in digitale Unterhaltungsformen wegfällt. 

„Es war frustrierend zu merken, dass sich seit meinem »Drop-out« niemand mehr für mich interessierte, wie auch – ohne Insta und Telegram war ich praktisch nicht mehr erreichbar, wer schickte eine E-Mail? Oder eine SMS? Um von meiner Mitteilungssucht runterzukommen, ließ ich den ganzen Tag mein Notizprogramm offen und tippte darin Nachrichten an mich selbst“, erlebt Mila in „Zeiten der Langeweile“ die unvergleichliche Einsamkeit während ihres Ausstiegs. 



Dauerdeprimiert?


Wenn uns also sowohl die Nutzung als auch die Entwöhnung von Social Media schlechte Laune machen und sogar depressiv verstimmen, zahlt sich der digital detox dann überhaupt aus? Für den Anfang reicht wohl ein ehrlicher Blick auf die persönliche Überforderungsbilanz, denn schließlich sind es ja tatsächlich nicht nur die digitalen Inhalte, die unsere Reize minütlich überfluten, unsere Stimmung beeinflussen und uns erschöpfen. Wie informiere ich mich? Wie halte ich Kontakt? Was brauche ich zur Unterhaltung?

Wer den Ausstieg oder die Entwöhnung probt, um die Dauerreize zu reduzieren, sollte darauf achten, womit die bisherige Social Media-Nutzungszeit ersetzt wird: Kontakte mit echtem Leben sind in jedem Fall hilfreich, nicht nur, weil wir Menschen instinktiv daraus Kraft ziehen, wenn wir uns mit anderen Lebewesen unterhalten. Freund*innen treffen, Freundschaften pflegen oder neu knüpfen – all das verankert uns ebenso in der Realität wie etwa Spaziergänge in der Natur. 


Kinder | Freude | Spielen | Freizeit | Draußen | Mi Pham | myGiulia
Foto: MI PHAM / unsplash

Mit wesentlich mehr (analog verbrachter) Zeit lässt es sich auch leichter neue Perspektiven einnehmen – sei es in Gesprächen, in der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen, beim Lesen von Romanen oder beim Theater- oder Kinobesuch. Frische Blickwinkel machen uns allgemein eine Spur empathischer und auch wachsamer gegenüber gesellschaftlichen und politischen Veränderungen. Sodass unsere Empörungswellen womöglich sachlicher, nachhaltiger und wirkungsvoller werden und dadurch seltener im digitalen Dauerfeuerwerk der radikalisierten Ränder verpuffen.



 

Alternativen zum Surfen: Unsere Buchtipps


Jonathan Haidt

Der Guardian schreibt über dieses Buch, dass es zum Gründungsdokument werden könnte für eine wachsende Bewegung, die dafür kämpft, Kinder von Smartphones fernzuhalten. Die Selfie-Kultur und Social Media-Plattformen sind zwei der Megatrends der 2010er Jahre und haben eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen beeinflusst, mehrere Stunden am Tag durch Beiträge von Influencer*innen und mehr oder weniger fremden Nutzer*innen zu scrollen, statt sich mit Menschen in ihrem unmittelbaren Umfeld auseinanderzusetzen, mit ihnen zu spielen, zu sprechen oder auch nur Blickkontakt aufzunehmen. Welche Auswirkungen das auf die psychische Gesundheit hat, wurde in mehreren Studien dokumentiert, die Haidt analysiert und Schlüsse für Politik und Eltern ableitet.



Elias Hirschl:

Ein Buch zum Diskutieren! In Teenager-Scrollgeschwindigkeit taucht uns Elias Hirschl in reale Absurditäten des Online-Alltags und überhöht diese binnen Sekunden ins Surreale – witzig, detailreich, einfallsreich. Wer will, findet ausreichend Gesellschaftskritik darin. Wer lieber an der Oberfläche bleibt, kann sich – gut unterhalten – damit trösten, dass die Welt (noch) nicht so ist. 

Für alle, die nach ihrem digital detox Sehnsucht nach der Reizüberflutung haben und sich gleichzeitig in ihrem Online-Rückzug bestätigen lassen wollen.



Ellen Dunne:

Patsy Logan ist eine facettenreiche Ermittlerin und auch sonst strotzt das Buch vor interessanten Charakteren, wenn wir im pandemiegebeutelten Dublin zwischen zwei Lockdowns nach Stella und vielen Antworten suchen. Dunne erzählt spannend und lehrreich und zeigt dabei, wie man trotz digitaler Globalisierung des Familien- und Soziallebens verloren gehen kann.

Für alle, die wissen wollen, wie die Content-Moderation, die dunkle „Rückseite“ der sozialen Medien, aussieht, die uns die bunte Unterhaltung in den Apps überhaupt erst ermöglicht.



Jenifer Becker:

Selten wurde analoge Einsamkeit, noch dazu verstärkt durch die Pandemie, so intensiv und eindringlich beschrieben. Jenifer Becker pendelt zwischen humorvollen digitalen Entzugserscheinungen und nachvollziehbaren emotionalen Ausnahmeerscheinungen. Für alle, die sich daran erinnern wollen, dass sie die Pandemie nicht als einzige so trist erlebt haben. 



Anna Lembke:

Aus dem Klappentext: In diesem Buch geht es um das Vergnügen – und um Schmerz. Denn wir leben in einer Zeit noch nie dagewesener Dopamin-stimulierender Reizüberflutung: Sei es durch Drogen, Essen, soziale Medien, Glücksspiel, Shoppen, Sex oder der ständige Griff zum Smartphone, das zur digitalen Injektionsnadel unserer Zeit geworden ist. Die Vielfalt an Süchten ist überwältigend.



Eva Menasse:

Aus dem Klappentext: Der Überfluss an Wissen, Geschwindigkeit, Transparenz und Unlöschbarkeit ist, unkanalisiert, kein Wert an sich. Demokratiepolitisch bedeutsam wird dies bei der vielbeschworenen Debattenkultur. Denn die Umgangsformen der sogenannten Sozialen Medien haben längst auf die anderen Arenen übergegriffen, Politik und Journalismus spielen schon nach den neuen, erbarmungsloseren Regeln. … Eine funktionierende Öffentlichkeit – als Marktplatz der Meinungen und Ort gesellschaftlicher Klärung – scheint es, wenn überhaupt, nur noch in Bruchstücken zu geben.



Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser:

Aus dem Klappentext: Bei vielen großen Fragen, so der überraschende Befund, herrscht einigermaßen Konsens. Werden jedoch bestimmte Triggerpunkte berührt, verschärft sich schlagartig die Debatte: Gleichstellung ja, aber bitte keine »Gendersprache«! Umweltschutz ja, aber wer trägt die Kosten? 



Peter Reichl:

Aus dem Klappentext: Aus der pointierten Sicht eines Informatikers mit einer gehörigen Portion Skepsis und reichlich subtilem Humor plädiert der Autor daher für eine Anti-Kopernikanische Wende und fordert einen Hippokratischen Eid für Ingenieure. Und vielleicht stellen ja digitale und ökologische Krise nur zwei Seiten einer Medaille dar?



 

Unsere Autorin


Autorin | Katharina Sabetzer | Portrait | myGiulia

Katharina Sabetzer lebt und schreibt in Wien und in der Steiermark. Meist vergisst sie die Welt um sich herum, wenn sie sich in ein neues Thema vertieft. Oder guten Kuchen isst.

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