von: Lisa Aschenbrenner
Wir leben in einer Welt des Wohlstands, von der frühere Generationen nicht mal zu träumen wagten. Und doch plagen viele junge Menschen im Alter zwischen Mitte Zwanzig und Anfang Dreißig Selbstzweifel, Unsicherheit und eine große Sinnkrise. Bedarf es vielleicht einer neuen Definition von erfülltem Leben? Unsere Autorin Lisa Aschenbrenner hat sich Gedanken zum Phänomen „Quarterlife Crisis” gemacht.
Hi, ich bin Lisa. Ich bin 34. Und habe damit die „Quarterlife Crisis“ wohl oder übel überlebt.
Habe ich? Nun ja, ja. Denn ich lebe ja noch. Und nicht nur das. Ich habe sogar das Gefühl, ich lerne gerade, wie das Leben eigentlich so geht. Als würde ich gerade erst anfangen, richtig zu leben. Das wird auch Zeit. Denn manchmal scheint es mir, als hätte ich in den letzten Jahren eher „über-lebt“ als „ge-lebt“.
Die letzten Jahre. Damit meine ich meine Zwanziger und Anfang Dreißiger. Ein Kapitel, das ich teilweise sehr gerne aus meinem Lebensbuch streichen würde. Denn schön war es nicht immer. Also ja, vielleicht könnte man meinen fiesen Struggle auf der Suche nach dem Selbst wohl oder übel in das Phänomen der „Quarterlife Crisis“ einordnen. Ein Begriff, den zwei junge Frauen 2001 prägten, oder viel mehr ins Leben riefen. Die beiden US-Amerikanerinnen Abby Wilner und Alexandra Robbins schrieben über ihre persönlichen Kämpfe im ersten Quartal des Lebens und sammelten ihre Empfindungen in dem gleichnamigen Buch „Quarterlife Crisis. Die Sinnkrise der Mittzwanziger“, woraufhin sich der Ausdruck in Anlehnung an dem der „Midlife Crisis“ mehr und mehr etablierte. Wenn man den Begriff betrachtet, erklärt er sich ein bisschen von selbst. Die Quarterlife Crisis – zu deutsch, eine Krise im ersten Viertel des Lebens. Was ich mich nun frage: Was macht das erste Quartal so schwer, dass man gleich in eine Krise stürzt? War das schon immer so, oder liegt das an unserer Zeit? Und wo ist der Unterschied zwischen Selbstfindung und Krise?
Ich suche Antworten. Bei Google, in mir selbst und in einem Gespräch mit meiner Mentorin & Diplom-Psychologin Ilona Schumacher. „Die ,Quarterlife Crisis’ gehört in der Psychologie zu den sogenannten kritischen Lebensphasen. Ein Teil davon ist die Erwartungshaltung an das eigene Glücksgefühl“, sagt mir Ilona zu Beginn unseres Gesprächs. „Die Erwartung an das eigene Glück“ ist es, was mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Denn ich glaube, genau das ist das Problem. Oder zumindest ein großer Teil davon. Die eigene Definition von Glück in einer Zeit, in der man „alles“ sein kann, (fast) „alles“ haben kann. Eine Zeit, in der man „alles“ teilen kann, „alles“ von „allen“ weiß und gleichzeitig niemanden wirklich kennt. Das eigene Glücksgefühl. Ich glaube, es gibt kaum ein natürlicheres Gefühl, welches wir so oft versuchen, künstlich von außen zu erzwingen. Durch Dinge. Durch Ziele. Durch das Tun. Oft knüpfen wir unser Glück an etwas, was wir nicht beeinflussen können. An das Außen. Und das, obwohl Glück ein Gefühl ist, welches wir nur im Inneren fühlen können.
Was ist Glück denn eigentlich? Wir leben in einer Welt, die sich vergangene Generationen nur erträumen konnten. Und doch scheint es, als wäre das Leben manchmal schwerer als je zuvor. Der Drang nach Ankommen in einer Zeit, die niemals stillsteht, ist schier kaum zu stillen. Das bestätigt mir auch Ilona, als ich sie frage, warum diese Sinnkrise genau unsere Generation so hart trifft. „Junge Menschen verspüren viel mehr Zeitdruck, obwohl sie mehr Zeit haben als jede Generation zuvor.“ „Wo will ich hin?“ oder „Wer bin ich?“ – Fragen, die in früheren Generationen überhaupt keinen Platz hatten. Aber genau das sind die Fragen, welche die Kernelemente für Lebenskrisen darstellen können.
Wer bin ich und wo will ich hin?
Mit Mitte 20 fühlten sich diese Fragen für mich an wie ein Wettrennen. Ein Rennen auf der Suche nach Glück. Nach Stillstand. Nach eben diesem „Ankommen“.
Ich war sehr stark bestimmt vom Außen und suchte permanent nach Anerkennung. Ich hatte das Gefühl, genau die Rolle spielen zu müssen, die man erwartet. Ohne mich je zu fragen, wie sich das für mich denn anfühlte. Ob die Rolle denn auch wirklich „Ich“ war. Oder das „Ich“, das ich sein wollte. Ich rannte gefühlt jedem Stern hinterher und war trotzdem nie zufrieden. Ich wollte immer mehr, war ständig auf der Suche. Aber auf der Suche wonach? Dieses Gefühl, dass das eigene Glück irgendwo „da draußen“ ist. Und man es einfach nur „erreichen“ muss. Eine unterschwellige Angst davor, was geschieht, wenn man es einfach nicht findet. Das Glück.
„Alles scheint möglich. Und durch die vielen Wahlmöglichkeiten werden Entscheidungsprozesse erschwert.“ – Ilona Schumacher, Dipl. Psychologin
Was, wenn man etwas verpasst? Diese verzweifelte Suche nach „perfekt“ – nach einem Optimalzustand von Leben. Das war es, was sich für mich erdrückend und unglaublich anstrengend anfühlte. „Die Quadratur des Kreises“, wie Ilona es beschreibt und damit den Nagel auf den Kopf trifft. Dieser Druck, genau die richtige Entscheidung zur richtigen Zeit und am richtigen Ort zu treffen. Und das gepaart mit einer permanenten Reizüberflutung an Optionen und dem Schein, dass „alle anderen“ auf Social Media gerade alles richtig machen. „Unser heutiges Menschenbild ist durch Globalisierung, Digitalisierung und vor allem auch der Optionierung geprägt“, sagt sie. „Alles scheint möglich und durch die vielen Wahlmöglichkeiten werden Entscheidungsprozesse erschwert“, so Ilona.
Das ständige Hinterfragen scheint Freund und Feind zugleich. Denn eine gewisse Selbstreflexion gehört in jeder Lebensphase dazu. Nur so können wir uns persönlich weiterentwickeln, auch wenn es nicht immer bequem ist. Ilona bewundere das sogar ein Stück weit. „Sich schon in jungen Jahren damit zu beschäftigen, was ich grundsätzlich vom Leben, von einer Beziehung oder auch einem Beruf möchte, ist löblich. Schwerer fällt mir zu sehen, mit welchem Übermaß dies betrieben wird.“ Das Übermaß. Vielleicht ein generelles Problem des Menschen? Der ständige Wunsch nach mehr? Problematisch scheint mir auch die Bewertung zu sein. Egal ob es vom Außen kommt oder von einem selbst. Die Bewertung, vor der man sich vor allem in jüngeren Jahren schwer schützen kann. Denn Meinungen sind überall. Und sie werden heutzutage auch im großen Stil und auf allen Kanälen nach außen getragen. Ob man sie nun hören will oder nicht.
Wann haben wir eigentlich irgendwo zwischen Freibad, Schule, Pickeln und ersten gebrochenen Herzen verlernt, zu leben? Fern der Fragen, der Entscheidungen, der Meinungen und der ganz großen Ziele. Haben wir das vielleicht nie gelernt? Oder lernt man es nur durch das Leben selbst? Durch eben jene Phasen, die sich Krisen nennen? Und die ebenso zum Leben gehören wie das erstrebte Glücksgefühl? Dass einem die dunklen Phasen erträglich erscheinen, weil man hofft, es sich danach endlich und endgültig verdient zu haben? Ich habe immer gedacht, ich wäre die Ausnahme. Die Einzige, die nicht wüsste, wie Leben geht. Dass alle anderen einen Plan hätten und diese Schwere gar nicht spüren würden. Diesen Druck. Heute weiß ich, das ist nicht so. Ich habe verstanden, dass man das Leben erst lernt, indem man es lebt. Dass es niemanden gibt, der mir sagt, wie es geht. Dass man es selbst herausfinden muss. Und dass man das auf seine ganz eigene Weise machen darf. In seinem eigenen Tempo.
Wie komme ich da wieder raus?
Was hätte ich mir mit Mitte 20 gewünscht? Was hätte mir geholfen? Irgendwie alles und nichts. Denn heute möchte ich die Lektionen nicht missen, die mich zu der Person gemacht haben, die ich bin. Und trotzdem frage ich Ilona: „Wie kommt man denn da raus?“ Denn wer weiß, wann die nächste kritische Lebensphase vor der Tür steht. „Es ist kein neuer Vorschlag, aber nach wie vor einer der besten aus meiner Sicht: Der Feind des eigenen Glückes sind die Vergleiche. Facebook, Instagram, Twitter/X, TikTok etc. helfen nicht, wenn man sie zu unbewusst und auch übermäßig nutzt. Unsere Glaubenssätze spielen eine große Rolle und leider bekommen wir weder in der Schule noch zu Hause Aufklärung darüber, wie wir sie für uns definieren können. Die eigenen ungesunden Glaubenssätze identifizieren und aussortieren und die gesunden etablieren und nutzen. Hier kann zum Beispiel ein systemisches Coaching durchaus hilfreich sein“, sagt Ilona. Wir sehen meist nur das, was wir sehen wollen. Oder das, was unser Gegenüber uns zeigt. Wer weiß schon, was ein Mensch neben Erfolg für Pakete mit sich trägt, oder was mit dem vermeintlichen Erfolg einhergeht? Vorbilder können motivieren, sollten sich aber nicht in ungesunde Vergleiche verwandeln. „Eine Frage, die hilfreich sein kann: Mit welchem Gefühl möchtest du auf dein Leben einmal zurückschauen? Die Antwort nimmt den Druck aus den kurzfristigen Etappen hoffentlich ein wenig raus.“
Ja, das Fühlen. Für mich ist es die wichtigste Form des Denkens. Die Form des Denkens, für die man nach innen schauen muss. Spüren muss. Die Form des Denkens, die einem keiner abnehmen kann. Keiner nachvollziehen kann. Keiner bewerten kann. „Das fühlt sich gerade (nicht) gut an“ sollte all unsere wichtigen Entscheidungen prägen. Und oftmals bedarf es keiner weiteren Begründung. Egal, wer diese vielleicht von uns verlangt. Wenn wir das Fühlen besser lernen, können wir vielleicht auch das Privileg der Selbstbestimmtheit nutzen, statt daran zu verzweifeln. Vielleicht können wir akzeptieren, dass es nicht das eine finale Ankommen gibt. Und dass das Ankommen für jede*n anders aussieht oder sich eben anfühlt. Vielleicht können wir annehmen, dass man auch trotz „aller Möglichkeiten“ unglücklich sein kann, verunsichert, oder verzweifelt. Es ehrt uns, dass wir uns hinterfragen. Aber wie wäre es denn mal mit „das Leben einfach einmal fließen lassen“? Das werde nämlich immer seltener, meint Ilona.
Das Leben fließen lassen. Das klingt schön. Und irgendwie beruhigend. Passend dazu fällt mir ein Spruch ein, ein altes japanisches Sprichwort.
„It is better to travel hopefully than to arrive.”
Ein fabelhafter Satz, der den Weg stets attraktiver beschreibt als das Ziel. Der Weg. Das Leben eben. Denn wer will schon ankommen, wenn man leben kann?
Im Gespräch mit
Ilona Schumacher ist Dipl. Psychologin mit den Schwerpunkten Arbeits-, Organisations- und Kommunikationspsychologie. Nach dem Studium an der Universität Hamburg – u. a. bei Prof. Friedrich Schulz von Thun – arbeitet sie heute selbstständig als Gründerin der Unternehmensberatung HyDiver mit ihrem Team als Organisationsentwicklerin sowie Executive Coach. In der daran angeschlossenen Akademie Change Campus bildet sie systemische Coaches und Organisationsentwickler*innen aus. Darüber hinaus verfolgt sie mehrere Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen und Business Schools.
Unsere Autorin
Lisa Aschenbrenner ist leidenschaftliche Alltagsphilosophin mit Talent für wilde Farbkombinationen, und systemische Coachin, die das Wort Coach ganz schrecklich findet, Fragen aber liebt. Mit Leidenschaft und gerne ehrlich schreibt sie über ihre täglichen Struggles auf der Suche nach dem Glück. Sie lebt irgendwo zwischen München und Berlin, schreibt im Kopf bereits ihr erstes Buch in NYC und arbeitet als Texterin & Concepterin. Ihr Credo? „Worte sind meine Kunst. Meine Poesie. Mein Wegweiser. Ich bin davon überzeugt, dass Worte die Welt verändern. Und deshalb teile ich meine.“
Ihre wöchentliche Substack-Kolumne „The weekly {B}LA” gibt es hier.
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