von Pamela Rußmann
Spoiler alert gleich zu Beginn, für alle, die heute keine langen Texte lesen wollen: Es war nicht alles schlecht in den letzten drei Jahren. Oder ein bisschen philosophischer ausgedrückt: vorwärts leben, rückwärts verstehen. Für alle anderen: Kommt mit auf eine Reise in die Vergangenheit, auch bekannt unter Coronapandemie.
Meine Top 7 der Charts aus dem Genre „Nichts ist mehr so, wie es einmal war“ sind:
1. Termine kurzfristig absagen ist seit der Pandemie nichts mehr, wofür sich Leute schämen. Im Gegenteil: Zusagen nicht einzuhalten ist die Regel geworden.
2. Unbeschwertheit ist so 2019!
3. Spazierengehen ist das neue Tanzen geblieben, auch wenn man sich mittlerweile wieder zivilisiert in Innenräumen in unbegrenzter Anzahl treffen könnte. (Vielleicht sind wir auch alle einfach alt geworden und hätten so oder so kein gesteigertes Interesse mehr an durchtanzten Clubnächten mit Nebelmaschinen und Cocktails aus Weichplastikbehältern.)
4. Die verbrachte Tageszeit vor Bildschirmen mit unterschiedlichen Zoll-Formaten ist nicht weniger geworden. Im Gegenteil: Das Leben ist durchdigitalisiert, endgültig.
5. Es hat ein unabsichtlicher Selektionsprozess stattgefunden. Es gibt tatsächlich Leute, die ich das letzte Mal vor der Pandemie in real life getroffen habe. Aber es gibt ja noch das Internet, um sich „verbunden“ zu fühlen, siehe Punkt 4.
6. Das Wort Maske hat den Bedeutungsschwerpunkt nicht mehr nur allein im Genre Fasching oder bei der Gesichtspflege.
7. Die ehemals hochgehaltene Kulturtechnik des Händeschüttelns zur Begrüßung ist Corona sei Dank abgeschafft. Die unangenehme Überraschung, plötzlich mit fremden, kalten Schweißhänden fusionieren zu müssen, gehört der Vergangenheit an.
Social Prescribing: There is more than medicine
Und dann sind da noch jene Erkenntnisse im zwischenmenschlichen Bereich, für die ich zwar keine Lockdowns gebraucht hätte, die mir aber durch das verordnete Eingesperrtsein in den eigenen vier Wänden mehr als bewusst geworden sind. Ich brauche zum Leben andere Menschen. Und nicht irgendwelche, sondern jene, mit denen ich entweder qua Geburt bereits eine lange Zeit gemeinsam verbracht habe, als da wären meine Eltern, insgesamt meine Herkunftsfamilie sowie andere nahe Verwandte aus den Generationen vor mir. Dann jene, die jünger sind als ich, also meine Tochter, und auch die Kinder meines Bruders. Und schließlich jene Menschen, die ich im Laufe des Erwachsenenlebens als meine Freunde und Freundinnen eingesammelt habe und mit denen ich ganz schön viel erlebt und diskutiert und getrunken habe, die mit mir in der Sonne liegen, die ich aber auch in dunklen Stunden anrufen kann.
Ich brauche mein Netz aus Menschen, in das ich eingewebt bin und mit dem ich mich jederzeit verknüpfen kann. Kein Zoom-Meeting, keine Instastory, keine SMS kann das Gefühl wettmachen, das sich einstellt, wenn sich Menschen in ein und demselben Raum treffen. Ausstrahlung und Energie, das sind Begriffe, die oft zu Unrecht als crazy-esoterisch abgetan werden – aber jeder und jede von uns weiß doch, wie es sich anfühlt, wenn man sich über die Anwesenheit eines geliebten Menschen freut, wie der Herzschlag schneller wird, die Mundwinkel sich ganz von alleine nach oben bewegen und sich Arme und Seele wie von Zauberhand öffnen.
Wir wissen um die elektrifizierende Wirkung bei einem Konzert, wenn ein ganzer Saal sich bewegt, zur Musik singt, lacht, hüpft, wenn die Augen strahlen vor Begeisterung. Denk an die Hitze, die zwischen zwei verliebten Menschen entsteht und sich über die beiden Körper hinaus ausbreitet! Wie Gesichter weich werden, wenn sie in ein Gegenüber schauen, das sie mit sanften, wohlwollenden Blicken auffängt. Wir wissen, wie es sich anfühlt, wenn wir uns entspannen und loslassen, wenn Hände, die wir mögen, sanft über den Körper streicheln, uns achtsam berühren. Das Herz ist auch in der Hand zu finden.
Die Distanz wieder verkürzen
Das in den letzten drei Jahren oft zitierte Brennglas hat mir aufgezeigt, dass die Schönheit, die Verrücktheit, der Sinn der Existenz sich nicht vollumfänglich spüren lässt, wenn man allein ist. Oder genauer gesagt: wenn man die ganze Zeit allein ist. Ich fühle mich lebendiger, wenn ich ein menschliches Gegenüber habe, einen Spiegel, eine Erweiterung, eine Bereicherung, und das Gegenüber muss dafür nicht mal ständig gut gelaunt sein!
Bei aller Angst, Hysterie und Debatten über Viren, R-Werte und Aerosole war das so genannte Social Distancing, das vor allem ein Physical Distancing war, für mich im persönlichen Bereich das Schlimmste an der Pandemie. Wie wir uns nun wieder höflich mit Vertrauen einander nähern, nicht nur im familiären oder freundschaftlichen Bereich, sondern auch im öffentlichen Raum, wird uns noch eine Weile beschäftigen. Der Umgang ist rauer geworden, der soziale Druck ist aufgrund der multiplen Krisen größer geworden, und bei allem Optimismus: Er wird vorerst nicht weniger werden.
Alles in allem ist uns viel abverlangt worden seit dem Ausbruch der Coronapandemie, den einen mehr als den anderen. Wie immer und zu allen Zeiten der Menschheit gibt es jene, die finanziell potenter oder stabiler aufgestellt sind als andere und in Krisenzeiten auf die Annehmlichkeiten weniger verzichten müssen als andere. Und wie immer gibt es auch jene, auf die weniger Fokus liegt, die leisen, die, die nicht gleich laut schreien, wenn´s zäh wird, die keine Lobby haben, weil sie zum Beispiel abhängig davon sind, dass sich andere Menschen für sie einsetzen, wie etwa unsere Kinder.
Ich ertappe mich immer wieder dabei, dem Jahr 2019 nachzutrauern. Wobei es nicht das Jahr an sich ist oder was ich damals erlebt habe (Anm.: es war nicht alles rosig und ich habe viel mehr geweint als in den drei Jahren danach), sondern ich trauere um ein Lebensgefühl, das bei all dem Irrsinn, den es auch damals schon gegeben hat, einen Hauch von unernster Unschuld umgab. 2020 war eine Art Aufwachen: Plötzlich war die Realität nicht mehr zu leugnen. Und wer um sich schaut, erkennt: Hier gibt es nach wie vor einiges zu tun für uns. Wir sollten gemeinsam aufräumen.
Auf zu neuen Ufern!
Vor kurzem habe ich ein neues Wort gelernt: Sprezzatura. Bitte einmal laut in übertriebenstem österreichischen Italienisch skandieren: Sprezzzzaatuuuraaa! Der Begriff stammt aus der Renaissance und wurde vom Schriftsteller Baldessare Castiglione geprägt. Kurz gesagt geht es um eine innere Haltung, die man sich durch stetiges Üben aneignen sollte, um anmutig zu werden. Die Meisterlichkeit zeigt sich letztlich in einer gewissen Lässigkeit, die man selbst beim Bewältigen von Anstrengungen und mühseligen Tätigkeiten ausstrahlt. Sprezzatura is my new spirit animal. Denn nur wer tanzen kann, dessen Gang wird ungezwungen. Siehe oben, Punkt 3.
Irgendwann geht auch das vorbei - Frauen in Zeiten von Corona
Dieses hoffnungsvolle Fotobuch & Zeitdokument von Fotografin Pamela Rußmann gibt Einblick in den Kosmos von Frauen während Corona.
Unsere Autorin:
Pamela Rußmann fotografiert seit ihrer Kindheit und parallel dazu schwingt stets die Liebe zu(m) Texten mit: Sie arbeitete beim ORF-Radiosender FM4, ist Gründungsmitglied der ORF-Late-Night-Show „Willkommen Österreich“ und verschlingt und diskutiert mit großer Leidenschaft Literatur im von ihr gehosteten Buchklub „Salon Sorority“. Für das Jahr 2020 hatte sie ein neues Lebenskapitel geplant, sie zog einen Schlussstrich unter ihre Fernsehtätigkeit, ab Mitte März war alles darauf ausgerichtet, den Fokus komplett auf die Fotografie zu legen. Doch dann kam der erste Lockdown und ihr bereits schön gefüllter Kalender war plötzlich leergefegt. Aber der Lockdown hat sie nicht blockiert, sondern sie hat in dieser Zeit ein kreatives Projekt entstehen lassen und im Lockdown Frauen auf der ganzen Welt zu einem Online-Shooting gerufen – deren Portraits und Gedanken zur Pandemie sind im bewegenden Buch: „Irgendwann geht auch das vorbei“ festgehalten.