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Orgasmus ohne Knopfdruck

TEXT: LISA ASCHENBRENNER


Auf der Suche nach ihrem abhanden gekommenen Orgasmus begibt sich unsere Autorin auf eine Forschungsreise. Sie stellt Fragen zu weiblicher Lust, zur Evolution, zu eigenen Mustern und natürlich zu Sex. Wie kann es sein, dass wir Frauen teilweise den Zugang zu unserer Sexualität verloren haben? Werden wir doch im Außen ständig sexualisiert. Wieso haben wir so oft Sex, obwohl wir dabei auf der Strecke bleiben? Ein Essay über den weiblichen Orgasmus, Sex Toys und warum es manchmal sehr wichtig ist, sich die „Mühe“ zu machen, selbst Hand anzulegen.

 


Foto von Alexander Grey Orange in der Hand I Orgasmus bei der Frau I weibliche Lust I Sex Toys I myGiulia
© Alexander Grey

 

Der gemeinsame Nenner


Sex ist ein wildes und gleichzeitig intimes Thema. Es hat so viele Facetten und könnte für Mann und Frau unterschiedlicher nicht sein. Und doch soll man dabei am Ende auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Im besten Fall zum Orgasmus. Beim Gedanken an alles Gelesene, was ich die letzten Tage dazu verschlungen habe, die  zig Gespräche, die mir mitgeteilten Geschichten, die Emotionen, baut sich eine angenehme Spannung in mir auf. Ich habe Schmetterlinge im Bauch, meine Atmung wird flach und mein Unterleib ist zum Leben erwacht. Das klingt jetzt fast nach einem Auszug aus „50 Shades of Grey“ – ok Lisa, zusammenreißen und nochmal von vorn.

 


Vibrieren und saugen auf Knopfdruck


Ich habe das Gefühl, dass mir der Orgasmus ohne Knopfdruck abhandengekommen ist. Wortwörtlich. Denn er liegt nicht mehr in meinen Händen. Ich habe meinen Orgasmus an den „Womanizer“ verloren, und dort steckt er seitdem fest. Soll heißen, ohne das kleine Spielzeug, das vibriert und gleichzeitig saugt, geht bei mir nichts mehr. Oder zumindest habe ich keine Lust und vor allem keine Geduld, es ohne zu probieren – sei es allein oder zu zweit. Und ich glaube, das ist ein Problem. Wenn ich ganz ehrlich bin, ist mir der Orgasmus nicht erst kürzlich abhandengekommen. Er war nie wirklich da. Jedenfalls nicht so, wie sich das mein naives, jüngeres Ich in einer romantisierenden Fantasie vorgestellt hat. Dass Sex etwas ist, was unweigerlich dazu führt. Zum Orgasmus. Ja, ich hatte schon Orgasmen. Meist mit mir selbst. Manchmal auch mit dem Partner. Aber noch nie durch Sex (allein). Eben diesem Akt, der dazu bestimmt ist.

Aber ist er das denn?

 




Immer diese Hormone!


Rein evolutionär gesehen ist der weibliche Orgasmus irrelevant. „Nice to have“ für uns Frauen vielleicht, aber plump ausgedrückt eigentlich total egal. Zumindest für die Fortpflanzung. Warum es den weiblichen Orgamus überhaupt gibt, darüber rätselten bereits einige Forschungsteams. 2016 kamen zwei Forschende in den USA zu folgender Theorie: Der weibliche Orgamus könnte einst den Eisprung ausgelöst haben und damit überlebenswichtig für die menschliche Spezies gewesen sein. Diese Überlegungen begründen sich auf der Beobachtung des männlich-induzierten Eisprungs, wie er etwa bei Katzen stattfindet. In diesem Fall braucht es den weiblichen Höhepunkt für die Fortpflanzung. Durch ihn werden die Hormone Oxytocin und Prolaktin ausgeschüttet, die wiederum zum Eisprung führen. Der heutige menschliche, monatlich wiederkehrende Eisprung, der unabhängig von äußeren Gegebenheiten ist, entwickelte sich erst beim Primaten. Bis heute werden aber beim weiblichen Höhepunkt die gleichen Hormone ausgestoßen, was die Theorie weiter untermauert und die Forscher*innen davon ausgehen lässt, dass es bei uns einst ebenso war wie bei den haarigen Vierbeinern.

 


Aus eigener Hand


Für alle, die wie ich beim Lesen kurz innehalten – beeindruckt vom Geschick des Katers, seine Begattete stets zum Höhepunkt zu bringen – die Lorbeeren gehen in dem Fall an die Natur. Denn sie sorgte dafür, dass die Klitoris der Katze näher oder sogar direkt im Sexualkanal liegt, was den Orgasmus durch Penetration viel wahrscheinlicher macht. Und hier genau liegt das Problem versteckt, oder wahrscheinlich auch mein abhanden gekommener Orgasmus. Denn gleichzeitig zur Entwicklung des Ovarialzyklus entfernte sich die Klitoris bei uns Menschen immer weiter vom Sexualkanal, sodass Orgasmen durch Penetration seltener wurden, da der Reproduktionserfolg nicht mehr von ihnen abhing. Das macht den heutigen weiblichen Orgasmus lediglich zu einem Überbleibsel des männlich-induzierten Eisprungs. Traurig auch die Tatsache, dass ich in Vorbereitung für diesen Artikel mit Frauen verschiedener Altersgruppen sprach und vor allem die ältere Generation teilweise erst in der Mitte ihres Lebens (wenn überhaupt) erlebte, wie sich ein Orgasmus anfühlt. Und das meist aus, oder besser gesagt mit, eigener Hand.


„Ich habe erst mit 40 das erste Mal masturbiert. Und dachte mir: Wahnsinn! Wie kann das mit einem Gerät so gut funktionieren und mit Männern nie. Mir wurde immer nur gesagt, du kommst je eh nicht, was soll ich denn da tun? Aber darüber gesprochen wurde nicht.” Selten bin ich sprachlos, doch bei Antworten wie dieser fehlen mir doch ganz kurz die Worte. Obwohl ich - wenn ich ganz ehrlich zu mir bin - ja genauso selten auf die Idee kam, gemeinsam mit meinem Partner dafür zu sorgen, dass es besser klappt. Und das fängt sehr oft mit einem offenen Gespräch an.

 


Bild von Lisa Aschenbrenner I Kunst Collage I Liebe, Leidenschaft und Lust I weiblicher Orgasmus I myGiulia
Bild von Lisa Aschenbrenner

 

Ich möchte gar nicht sagen, dass es für den Mann immer leichter ist. Nur weil er eben kommt. Wenn man denn den Orgasmus überhaupt als „einziges Ziel” definieren möchte. Ich glaube, dass auch der Mann beim Sex vieles gleichzeitig unter Kontrolle haben muss. Sei es die Stellung halten, die eigenen Zweifel oder Komplexe managen, genauso wie die Erwartung, der „große Stecher“ zu sein, dabei aber nicht zu schnell zu kommen, aber bitte schon auch irgendwann. Trotzdem kann der Mann sich am Ende so gut auf sich und seine eigene Lust fokussieren, dass er zum Höhepunkt kommt. Wie könnte es auch anders sein, er ist schließlich verantwortlich für das Überleben seiner Spezies.


 

Oversexed and underfucked


Während ich versuche, diese neu gewonnenen Fakten verständlich und gleichzeitig ansprechend zu formulieren, erklären sich mir langsam meine Notizen, in denen ich mich frage, wie es sein kann, dass wir Frauen teilweise den Zugang zur eigenen Sexualität verloren haben. Den Zugang zu unserer eigenen Lust. Wo wir doch von außen so oft sexualisiert werden. Und auch wenn das hier eher humoristisch und nicht gesellschaftskritisch werden soll, manchmal ist Humor eben nur eine Tarnung für Dinge, die – nüchtern betrachtet – zu hart sind, sie zu schlucken. Nun gut, weiter im Text. Oder weiter mit der Suche nach meinem Orgasmus.

 


Bild von Lisa Aschenbrenner I Kunst Collage I Erwartungen I weiblicher Orgasmus I Lust und Liebe I myGiulia
Bild von Lisa Aschenbrenner

 

Kommen. Immer. NOT.


Vielleicht steht die Entfernung der Klitoris vom Sexualkanal in Korrelation zur Distanz zwischen der Befriedigung der Frau und dem Sex an sich? Die Tatsache, dass unser Orgasmus nicht so „wichtig“ ist, könnte erklären, warum es Frauen – oder vielleicht ja auch nur mir – schwerer fällt zu kommen. Denn mitunter wissen wir teilweise selbst nicht, was uns gefällt und erst recht nicht, wie wir es artikulieren können. Schämen wir uns denn etwa, frage ich ganz direkt. Und die Antwort, die ich bekomme, ist: „Ja, irgendwie schon. Bei mir war es mein Mann, der angefangen hat, darüber zu reden. Mich zu fragen, was mir denn gefällt. Und ich konnte es nicht beantworten. Es war mir anfangs auch richtig unangenehm, Dinge auszuprobieren. Im Fokus zu stehen. Aber dann war es spannend und auf eine ganz neue Art intim. Gemeinsam - auch mit Toy - zu einer Einheit zu werden.”


Und auch wenn ich unter meinen Freundinnen die Einzige bin, die beim Sex noch keinen „richtigen” Orgasmus hatte (oder nur die Einzige, die darüber spricht), so sind es laut Studien doch 33 % der Frauen in heterosexuellen Beziehungen, denen es genauso geht. Ganze 77 % täuschen regelmäßig ihren Orgasmus vor, weil sie das Gefühl haben, ihr Partner erwartet, dass beide kommen. Wie kann es denn sein, dass wir trotzdem noch so viel Sex haben? Wenn es uns teilweise gar nicht befriedigt.

 


Meine These


Bedenkt man, dass der männliche Erguss zur Fortpflanzung immer noch unser Ei benötigt – im übertragenen Sinne unsere Zustimmung oder besser gesagt unsere Verfügbarkeit –, könnte das der Grund sein, dass wir Frauen bis heute unterschwellig das Gefühl haben, wir sind für die männliche Befriedigung verantwortlich. Egal wie emanzipiert wir sind. Und egal, ob wir gerade Lust haben oder nicht. Was wäre denn auch die Alternative? Das Aussterben der Menschheit?

 

Gottseidank gibt es also Toys wie den „Womanizer“, es gibt Männer, denen sehr wohl bewusst ist, dass Sex im echten Leben nicht funktioniert wie in Pornos, es gibt Plattformen für die weibliche Lust, wie Femtasy, es gibt Vulva-Kurse, Yoni-Eier, Tantra-Workshops und Sexual-Therapeut*innen. Was uns all diese Tools oder Angebote aber nicht nehmen können, ist die Verantwortung und der Mut anzufangen für uns selbst einzustehen. Und für unseren Orgasmus. Selbst wenn er nicht zur Fortpflanzung beiträgt.

 


Foto von Pamela Rußmann I Frau in weißen Spitzen-BH mit Sekt-Flasche I weiblicher Orgasmus I Lust und Sex I myGiulia
© Pamela Rußmann

Party mit mir selbst


Orgasmus auf Knopfdruck ist dabei möglicherweise ein erster Schritt. Bevor es überhaupt nicht funktioniert. Aber ich habe das neugierige Bauchgefühl, dass es mehr bedarf. Dass es mehr gibt, was mir helfen kann. Ich glaube, um meinen Orgasmus zurückzuerobern bzw. neu zu entdecken, gehört wie so oft Eigenarbeit. Es bedeutet, mich selbst besser kennenzulernen, meine eigene Lust, meine weibliche sexuelle Energie. Mit mir allein und mit meinem Partner. Es ist an der Zeit, mir die Fragen zu stellen: Wann fühle ich mich lustvoll? Wann fühle ich mich sexy? Was muss passieren, damit ich mich fallen lassen kann? Was finde ich attraktiv? Wann tue ich Dinge nur, weil man sie erwartet? Wie kann ich das in Zukunft ändern? Vielleicht ist der größte Game Changer zu akzeptieren, dass der Orgasmus zwar das Ziel ist, der Weg dorthin aber eine riesige Spielwiese. Und ist es nicht absolut machtvoll, selbst darüber zu entscheiden, wann und wie ich komme? Jenseits der Penetration allein? Macht uns das nicht maximal frei?

 

Auf all diese Fragen habe ich teilweise noch keine Antwort. Nur das Vertrauen, dass die Suche danach spannend wird. Was ich nun also nach Beenden dieses Textes gedenke zu tun? Ich werde mir schöne Unterwäsche kaufen. Nur für mich. Ich werde sie anziehen und wahrnehmen, wie ich mich fühle. Ich werde meine Yoni-Eier endlich mal benutzen. Ich werde mich dabei spüren. Ich werde meinen Femtasy-Account reaktivieren und mir in Ruhe erotische Gedanken machen und sie einfach mal da sein lassen. Sie nicht befriedigen. Das Erwachen und Wahrnehmen meiner Lust trainieren. Und natürlich werde ich masturbieren, aber ohne „Womanizer“. Vielleicht dauert es dann länger. Aber das ist es mir wert.

 

 

Wusstest du, dass…


…84 Prozent der Männer einmal bis mehrmals täglich masturbieren, aber nur 14 Prozent der Frauen?


… 98 Prozent der Verwenderinnen des „Womanizers” angeben, dass sie mit dem Tool innerhalb von fünf Minuten einen Höhepunkt erleben?


…der Anteil der Frauen in Deutschland, die Sextoys benutzen laut dem Tenga Lustreport aus dem Jahr 2020 bei rund 61 Prozent liegt?


…bei Männern der Abbau von sexueller Spannung und bei den Frauen Entspannung im Vordergrund steht bei der Selbstbefriedigung? Ob Single oder nicht, ist dabei nicht entscheidend: etwa 80% der befragten liierten Personen (sowohl Frauen als auch Männer) gab an, dass sie auch in der Partnerschaft immer wieder alleine masturbieren.


…rund drei Viertel der Frauen, die angeben, Sexspielzeug zu verwenden, im Besitz eines Vibrators sind? Vibrierende Toys werden von mehr als einem Drittel der Frauen genutzt, aber nur von sieben Prozent der Männer.


…die meisten Frauen Sextoys sowohl mit als auch ohne Partner*in verwenden?


(Quellen: JOYclub; amorelie; de.statista.com)

 


 

Unsere Autorin


Foto von Lisa Aschenbrenner im Herbst-Outfit I Alltagsphilosophin I Foto von Hannes Thun
© Hannes Thun

Lisa Aschenbrenner ist leidenschaftliche Alltagsphilosophin mit Talent für wilde Farbkombinationen, und systemische Coachin, die das Wort Coach ganz schrecklich findet, Fragen aber liebt. Mit Leidenschaft und gerne ehrlich schreibt sie über ihre täglichen Struggles auf der Suche nach dem Glück. Sie lebt irgendwo zwischenMünchen und Berlin, schreibt im Kopf bereits ihr erstes Buch in NYC und arbeitet als Texterin & Concepterin. Ihr Credo? „Worte sind meine Kunst. Meine Poesie. Mein Wegweiser. Ich bin davon überzeugt, dass Worte die Welt verändern. Und deshalb teileich meine.“


Ihre wöchentliche Substack-Kolumne The weekly {B}LA gibt es hier.

 

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