von Shandiz Ahi
Seit Jahrzehnten kämpfen sie für das, was für uns selbstverständlich ist. Meinungsfreiheit, Frauenrechte und Selbstbestimmung. Ein Porträt über die mutigen Frauen Irans.
Was ist Mut?
Und woran lässt er sich messen? Die Antwort darauf lässt sich nur individuell beantworten: „Jeder ist nur so mutig, wie er es sein muss!“ habe ich in diesem Zusammenhang oft gehört. Ist mutig sein die Überwindung von Angst und Grenzen (auch der eigenen), um über sich hinauszuwachsen? Jede*r von uns hat eine Geschichte über Mut zu erzählen. Meine beginnt 1985, knapp sechs Jahre nach der Islamischen Revolution, als meine Eltern im Iran über sich hinauswachsen. Sie ließen ihr Leben, ihre Familien und ihre Geschichte zurück, um meinen Bruder und mich im Alter von zehn und fünf Jahren in eine vermeintlich bessere Zukunft zu führen. Sie begannen dabei wieder von Null. Und das in einem fremden Land, mit fremder Kultur, Menschen und Sprache. Weit weg von allem was sie kannten und liebten. Seither ist Mut so etwas wie eine zweite Haut, die wir uns überstülpen mussten, um dazuzugehören und in der neuen Parallelwelt zu überleben. Im Vergleich zum Schicksal derer, die wir zurückließen, gehören wir damit zu den Glücklichen: Für dieses neu gefundene „Glück“ mussten wir weder zu Hunderten in einem Schlauchboot einen Ozean überqueren noch auf den gefährlichen Straßen den sicheren Tod im Kugelhagel oder die Folter im Gefängnis fürchten. Wir dürfen leben, fern von allem, was wir hinter uns ließen – für ein Leben in Freiheit, Sicherheit, Wohlstand und Demokratie. Wir dürfen wählen, sagen, heiraten, leben und tragen, was, wie und wen wir wollen. Die Menschen im Iran – Männer, Frauen und Kinder – werden für den Kampf und die Ausübung ihrer Grundrechte dafür seit Jahrzehnten gekidnappt, weggesperrt, gefoltert und gehängt. Ein Leben am Limit für eine „relative“ Freiheit.
Gen Z und die neue Freiheit
Am 16. September 2022 war es der gewaltsame Tod von Jina Mahsa Amini, einer jungen iranischen Kurdin, die sich laut iranischen Behörden nicht entsprechend an den Hijab, die Kleiderordnung, hielt, der das Pulverfass zum Sprengen brachte. Ihr Tod erzürnte die iranische Bevölkerung, die seit mittlerweile 44 Jahren in Geiselhaft des Regimes lebt und brachte sie diesmal geeinter denn je auf die Straßen des Landes. Ein Land, in dem die Mehrheit der Studierenden Frauen sind und mehr als achtzig Prozent der Bevölkerung unter dreißig Jahren alt ist. Mit einer Generation Z, die den Begriff „Freiheit“ dank Social Media nicht nur aus dem Narrativ ihrer Eltern und Großeltern kennt und sich mit Phrasen über Gotteslästerung und einem Angstregime nicht mehr unterdrücken lassen will. Und jetzt aus allen Teilen der Bevölkerung, Ethnien sowie politischen Zugehörigkeiten des Landes Solidarität erfährt – angeführt von den Frauen, die unter diesem Regime am meisten erleiden mussten. Mit nichts mehr als ihrer Stimme, mit der sie sich so lautstark wie noch nie erheben und mit symbolischen Bildern, die sie in den sozialen Medien um die Welt gehen lassen, während sie ihren Hijab demonstrativ wie Friedensfahnen in der Luft schwingen oder verbrennen. Als Sinnbild für die weibliche Unterdrückung und Akt ihrer Ablehnung.
„Die Frauen Irans sind Löwinnen!“
„Wenn sich einmal etwas zum Guten wenden soll, dann durch die Frauen!“, erzählt mir Natalie Amiri im Interview vor über einem Jahr, noch nicht ahnend, dass sie damit recht behalten sollte. Die deutsch-iranische Journalistin, Fernsehmoderatorin und Buchautorin ist eine der lautesten Stimmen und Schallverstärker für iranische Frauen. Sie leitete jahrelang das Teheraner ARD-Studio und versorgte die Welt mit Bildern und Berichten, ehe sie nach einer Einreisewarnung nicht mehr dorthin reisen durfte. In ihrem ersten Bestseller „Zwischen den Welten“ verarbeitete sie ihre Erfahrungen mit dem iranischen Regime und traf bereits 2021 einen Nerv. Im Jahr darauf, gleich nach Abzug der amerikanischen Truppen, reiste sie nach Afghanistan – das inzwischen durch die Taliban vollständig übernommen war, um ihre Eindrücke in ihrem zweiten Bestseller „Afghanistan – Unbesiegter Verlierer“ zu schildern. „Ich sehe es als meine Mission, diesen Menschen dort eine Stimme zu geben. Da immer weniger Journalist*innen in diese Länder reisen (können), ist es jetzt umso wichtiger geworden, das zu tun.“
„Regime profitieren immer von den Geschichten, die nicht erzählt werden.”
Immer wieder porträtierte sie beeindruckende Frauenpersönlichkeiten und brachte sie trotz aller Widrigkeiten vor die Linse. „Ich sehe in diesem Land eine lebendigere und überzeugendere Emanzipation als in Europa. Diese Frauen sind Löwinnen, die sich nichts sagen lassen und jeden über den Mund fahren, der dies tut. Sie studieren, arbeiten, sind willensstark, klug und sehr zäh! Was sie sich so hart gegen die eigenen Familien, die Gesellschaft und den Staat erkämpfen müssen, empfinden sie als Juwelen und als etwas Schützenswertes. Da geht es wirklich ums Überleben!“, erzählt sie mir.
Frauen als friedliche Revolutionsführerinnen
Für sie und auch viele andere Journalist*innen und Aktivist*innen weltweit ist mit der jüngsten Protestbewegung die verloren geglaubte Heimat wieder schmerzlich nahe gerückt. Mit dem Claim „Frau, Leben, Freiheit“ oder „Zan, Zendegie, Azadi“ (aus dem kurdischen übernommen „Jin, Jiyan, Azadi“, dem Kampfslogan der Kurdinnen) als Tribut an die Bewegung stehen die iranischen Frauen nun im Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr bloß als Opfer da, die unterdrückt würden und keine Stimme hätten. Es ist die erste von Frauen angeführte Revolution, in der die Menschen sich ohne Waffengewalt vereint gegen die Machthaber stellen. „Das System hat seit vier Jahrzehnten seine gesamte Macht zum Einsatz gebracht, um die Frauen im Iran zu brechen. Doch sie beugen sich nicht. Im Gegenteil: Je länger sie bekämpft wurden, desto aufrechter gingen sie. Die iranischen Frauen - nun sind es die Enkelkinder der Revolution von 1979 - wollen keine Zugeständnisse mehr. Sie wollen das, was jedem Menschen zustehen sollte”, erzählt Natalie Amiri.
Für ihr neuestes Buch „Die mutigen Frauen Irans – Wir haben keine Angst!“ hat sie gemeinsam mit Co-Autorin Düzen Tekkal, Menschenrechtsaktivistin und Journalistin kurdisch-jesidischer Abstammung, 15 Frauengeschichten zusammengetragen, die aus ihren persönlichen Erzählungen einmal mehr vor Augen führen, wie es um die Frauen im Iran steht: Diese Frauen kämpfen, protestieren, rebellieren und fordern ihre Rechte bereits seit Jahrzehnten ein. An ihrer Seite: die Männer - und sie gewinnen damit jedes Mal ein kleines Stück Freiheit dazu. Mit einer Kreativität und Stärke, die sie unter sehr komplexen Lebensumständen entwickeln mussten. Diesmal so laut, dass niemand mehr die Augen davor verschließen kann.
„Es gibt Momente im Leben, da merkt man: Jetzt geht es um alles!”
Der Beitrag von Menschenrechtsaktivistin Narges Mohammadi, einer der Protagonistinnen aus dem Buch, wurde auf Umwegen aus dem Evin-Gefängnis geschmuggelt, wo sie während des Schreibens inhaftiert war und auch bis auf weiteres sein wird. Die Porträts dieser Frauen veranschaulichen deutlich, wie alltäglich Gewalterfahrungen für Frauen im Iran sind und warum Aminis Tod eine solch starke Resonanz in der Bevölkerung ausgelöst hat. An einer anderen Stelle im Buch fasst es die in Deutschland lebende Künstlerin Parastou Forouhar, deren Eltern durch das Regime ermordet wurden und sich politisch und künstlerisch mit den Themen in ihrem Heimatland befasst, so zusammen: „Es gibt Momente im Leben, da merkt man: Jetzt geht es um alles. Es geht darum, dass man als Mensch eine Haltung findet, damit man mit sich selbst weiterleben kann. Trotz aller Konsequenzen!“ Konsequenzen, die auch Nasrin Sotoudeh, eine der bekanntesten und stärksten iranischen Frauenpersönlichkeiten fürchten muss: Die Menschenrechtsaktivistin und Anwältin befindet sich zum Zeitpunkt des Interviews in Hafturlaub vom berüchtigten Evin-Gefängnis und lässt sich trotz Interviewverbot und der damit einhergehenden Gefahr, für das Buch interviewen. Ihre Worte brennen sich ins Herz: „Die andauernde Gewalt hat die Frauen derart in die Enge getrieben, dass das nötige Quantum an Mut und Tapferkeit in ihnen entstehen konnte, um sich aufzulehnen. Sie fordern Gleichheit und Gerechtigkeit und verlangen, dass ihre Rechte respektiert werden. Sie haben nichts mehr zu verlieren! Die Menschen, die auf die Straße gehen, haben Angst, verhaftet oder niedergeschossen zu werden. Trotz der Angst gehen sie auf die Straße. Die Angst wird diese Bewegung nicht stoppen! In der Hoffnung, dass unsere Leiden damit vielleicht dabei helfen, Gerechtigkeit herzustellen!“
Die Kraft der Menschen und der gemeinsamen Werte
Wie gesagt: Man ist nur so mutig, wie man es sein muss. Im Iran erreicht der Mut der Menschen eine neue Dimension. „Wir sollten wieder an die Kraft der Menschen glauben, an die Kraft der Werte, die uns vereinen!“, sagt Natalie Amiri im Vorwort ihres Buches. „Die Menschen im Iran haben mich und meinen Werdegang geprägt. Sie lehrten mich, immer etwas mutiger sein zu können, als wir denken. Diese mutigen Frauen haben mir das vorgelebt. Wir haben hier das wunderbare Recht, sprechen zu dürfen, unsere Meinung zu sagen, laut zu sein! Wenn also nicht wir, wer dann soll den mutigen Frauen Irans die Möglichkeit geben, dass ihre Stimmen gehört werden!“ Worte aus ihrem Buch, die sie auch bei „Raising Voices”, einer Tribute-Veranstaltung für iranische und afghanische Frauen anlässlich des Frauentages am 8. März 2022 als Keynote-Speakerin bei tosendem Applaus und Standing Ovations vor Alexander Van der Bellen und geladenem Publikum in der Hofburg bewegend vortrug.
Diese Frauen werden jetzt, spätestens nach der letzten Bewegung, in einem völlig neuen Licht gesehen. Ihr unerschrockener Mut und ihr Widerstand gegenüber dem Machtapparat der Mullahs gingen über unsere Kanäle. Gebannt von ihrem Schicksal schlossen sich zahlreiche Exiliraner*innen, Künstler*innen, Politiker*innen, Musiker*innen und Unterstützer*innen in Österreich und aus aller Welt an, übernahmen Patenschaften für Gefängnisinsassen, hielten beeindruckende Reden oder demonstrierten zu Tausenden auf den Straßen. In Berlin versammelten sich sogar bis zu 80.000 Menschen, um Iraner*innen Mut zu machen und ein starkes Signal zu setzen: „Wir sehen euch!“
Ob ihr langersehnter Wunsch nach Freiheit, Menschenrechten und ein Leben in Würde auch gehört und gewährt wird, bleibt abzuwarten. Die Energiekrise und der Krieg in der Ukraine werden den Westen vor schwere Entscheidungen stellen: Verteidigt es die Menschenrechte mehr als die eigenen wirtschaftlichen Interessen? Europa hat durch die drohende Energieknappheit einiges zu verlieren. Aber mit Sicherheit sein Gesicht, wenn es sich mit Frauen- und Kindermördern an den Verhandlungstisch setzt.
Aktuell sitzen im Iran 30.000 Menschen in Haft. Alle sechs Stunden wird jemand ohne fairen Prozess und durch ein (mittels Folter) erzwungenes Geständnis hingerichtet. Als Mittel der Einschüchterung. „Neulich schrieb mir eine junge Frau aus Teheran: Wissen Sie, warum die Islamische Republik gerade so massiv hinrichtet? Weil sie wissen, dass dem Westen das Atomabkommen wichtiger ist“, erzählt Natalie Amiri ernüchtert.
Auf den Straßen Irans ist es stiller geworden. Hier, im vermeintlich sicheren Hafen herrscht auch wieder so etwas wie Resignation. Und doch erreichen uns immer wieder Bilder und Erzählungen von tanzenden, stolzen Frauen ohne Kopftuch. Was dies für sie bedeutet, kann sich jeder selbst ausmalen.
Kurzbios
Natalie Amiri, geboren 1978, ist eine deutsch-iranische Journalistin, Fernsehmoderatorin und Buchautorin. Seit dem 30. März 2014 moderiert sie den Weltspiegel aus München, außerdem das BR-Europa-Magazin EUROBLICK. Sie leitete von 2015 bis April 2020 das ARD-Studio in Teheran. Ihre Berichte über die Revolution im Iran erreichen Millionen Menschen.
Düzen Tekkal, geboren 1978, ist kurdisch-jesidischer Abstammung. Sie ist Politologin, Menschenrechtsaktivistin und Gründerin der Menschenrechtsorganisation HÁWAR.help, die sich für die Aufarbeitung des Völkermords an den Jesiden, für Mädchen und Frauen in Afghanistan und für Frauen im Iran einsetzt. Für ihr Engagement erhielt sie 2021 das Bundesverdienstkreuz.
Podcast „Dichtung und Wahrheit”: In dieser Folge von Dichtung & Wahrheit spricht Laura de Weck mit der Autorin, Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal.
Unsere Autorin
Shandiz Ahi, 1980 in Teheran geboren, 1985 nach Wien emigriert, studierte Mediendesign und Journalismus. Sie hat u.a. in New York gelebt und arbeitet seit 20 Jahren als Journalistin für alle namhaften Magazine Österreichs. Sie hat nicht nur das richtige Gespür für die schönen Dinge des Lebens, Shandiz liebt es auch, Geschichten von Menschen zu erzählen, die unter die Haut gehen und inspirieren.
Comments