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Dann atme hier einmal tief ein


von Pamela Rußmann

Winterlandschaft

„Ich brauch schon wieder Urlaub“, seufzt Johanna und stellt für uns beide Teekanne und Tassen einen Hauch zu laut auf den Tisch. Sie setzt sich mit unausgesprochener, aber eindeutig erkennbarer Verdrängungsabsicht mit dem Rücken zum Geschirr- und Pfannentumult, der in ihrer Küche fröhliche Urstände feiert. Der Dezember, klagt sie, sei schon wieder viel zu kurz für die To do-Liste gewesen, die die Adventszeit gemütlich und kuschelig hätte gestalten sollen.

Ja, eben. Finde den Fehler.


Aus dem Vorhaben, die Christkindlmärkte mit dem Glanz innerer Lichterketten zum Strahlen zu bringen, ist wieder nichts geworden, und just in dem Moment, wo sie sich dachte, wurscht, geschafft, Heilig Abend ist da, morgen schlafen wir aus, bog das erste Familienmitglied mit Halsschmerzen und Aua ums Eck. Weihnachtsferien mit Kindern zwischen 0 und 14 Jahren ist eine Tombola, mit den Hauptpreisen Schafblattern, eitrige Angina oder Bronchitis, jedes Los gewinnt.


Mittlerweile ist der Jänner fast vorbei, oh, ihr elenden Zeitdiebe, wie konnte das passieren, und wir haben gefühlt bereits von so vielen Skandalen, Ungeheuerlichkeiten und Verzweiflung lesen müssen, dass es einem handelsüblichen Nervenkostüm für ein ganzes Jahr reichen würde. Und der Christbaum steht auch noch.


Arbeitszeitverdichtung multipliziert mit häuslicher Krankenpflege dividiert durch Breaking News ergibt schlechte Haushaltsführungsbilanz.

Die Nadeln rieseln leise zu Boden, wo sie sich zu den lustigen Neujahrsvorsätzen gesellen.

Dabei wollte sich Johanna in der allseits verordneten Einkehr zwischen den Jahren mit ihrem persönlichen Zufriedenheitslevel beschäftigen. Sie wollte noch schnell vor dem Silvesterfeuerwerk evaluieren, ob die Menschen und Dinge, die sie Anfang 2022 geprägt hatten auch am Ende des Jahres noch eine Rolle spielen, schließlich soll man ja Ballast abwerfen, wenn der große Auftritt der Pummerin näher rückt. Und ja, wem bin ich näher gerückt im letzten Jahr? Und von wem bin ich vielleicht weiter weg gerückt und warum?



Winterlandschaft

Dem Jahreswechsel wird sowieso viel zu viel Bedeutung beigemessen, versuche ich meine Freundin (und mich selbst) zu beruhigen.


Manche tun doch wirklich so, als würden sie am 31.12. über den Rand dieser Welt stürzen und am Neujahrstag in einer neuen aufschlagen, in der alles toller, mannigfaltiger, verheißungsvoller, bunter und sowieso einfach alles anders ist.

Leider haben diese Menschen bunte, tolle, verheißungsvolle Social Media-Accounts, denen wir willenlos folgen, und während diese Fabelwesen, so scheint´s, die neue Welt im neuen Jahr niederreißen, stecken wir noch bei der Aufarbeitung fragwürdiger Dialoge im weihnachtlichen Verwandtenkreis fest.


Dann atme hier einmal tief ein. Und wieder aus.


Der Beginn eines Kalenderjahres löst in uns immer eine gewisse Aufregung aus. Schließlich stecken wir unsere Nase in etwas Unbekanntes, Unerforschtes, Unbegreifliches. Dieses Etwas heißt Zukunft. Es gibt kein GPS dafür, keine Google Map zeigt uns den Weg. Wir mischen Erfahrungswerte und Vergangenes mit dem Vorstellungsvermögen der Gegenwart und projizieren eine blasse Ahnung in die Zeit, die bevor steht. Multiple, globale Krisen und das Gefühl, dass sich grundlegende Dinge zu ändern scheinen in unserem Leben, brauchen mehr denn je ein mit Zuversicht und Optimismus gebautes Fundament.


Erinnert sich noch wer an Lockdowns? Geschlossene Schulen? Ausgangssperren? Spaziergänge im Wald als einzige Gelegenheit, um Freunde legal zu treffen? Johanna lacht, als ich sie darauf aufmerksam mache, dass wir uns zum Glück nicht mehr mit pandemiebedingtem Homeschooling herumschlagen müssen.


Schnee

Ich weiß nicht, welches physikalische Gesetz dahintersteckt, das es einem unmöglich macht, Entspannung abzuspeichern für stressige, fordernde Zeiten.


Man kann Ruhe nur in jenem Moment auskosten und genießen, in dem sie stattfindet. In der absoluten Präsenz. Im Jetzt. Keine Aufbewahrungsmöglichkeiten für später vorgesehen.

Mah, ich wünschte, es gäbe im Körper jene Art von mikroskopisch kleinen Hohlräumen, die die innere Ruhe wie das Erdgas im unterirdischen Porengestein speichern könnten. Bei Bedarf abrufbar. Anbieten würde sich meiner Meinung nach für diesen Zweck das Bindegewebe, auch um sein elendes Image aufzubessern.


Und so scrolle ich niedergestreckt von Terminen und Zeugs und Winterwetter in den ersten Wochen des Jahres abends durch Stories auf Instagram, wo mir ein zartrosa glühendes „super cycle after glow“-Gesicht nach dem anderen entgegenschwitzt, während ich mir von den Fingern den schmelzenden Schoko der Christbaumbehangreste abschlecke. Stichwort Bindegewebe.



 

Unsere Autorin:


Pamela Rußmann fotografiert seit ihrer Kindheit und parallel dazu schwingt stets die Liebe zu(m) Texten mit: Sie arbeitete beim ORF-Radiosender FM4, ist Gründungsmitglied der ORF-Late-Night-Show „Willkommen Österreich“ und verschlingt und diskutiert mit großer Leidenschaft Literatur im von ihr gehosteten Buchklub „Salon Sorority“. Für das Jahr 2020 hatte sie ein neues Lebenskapitel geplant, sie zog einen Schlussstrich unter ihre Fernsehtätigkeit, ab Mitte März war alles darauf ausgerichtet, den Fokus komplett auf die Fotografie zu legen. Doch dann kam der erste Lockdown und ihr bereits schön gefüllter Kalender war plötzlich leergefegt. Aber der Lockdown hat sie nicht blockiert, sondern sie hat in dieser Zeit ein kreatives Projekt entstehen lassen und im Lockdown Frauen auf der ganzen Welt zu einem Online-Shooting gerufen – deren Portraits und Gedanken zur Pandemie sind im bewegenden Buch: „Irgendwann geht auch das vorbei“ festgehalten.


Die Fotografin zog selbst wichtige Lehren aus ihrem Projekt, unter anderem, wie wertvoll persönliche Kontakte sind, wie wenig es bedarf, um zufrieden zu sein, „und wie wirklich zerbrechlich das Leben ist. Wir haben bemerkt, wir haben alle in einer Schein-Sicherheit gelebt und von einem Tag auf den anderen war das Leben komplett anders.“


Pamela hat sich als Fotografin auf Porträts von Frauen spezialisiert, die Bandbreite geht von Personal Branding / Businessportraits über Life Photography wie Babybauchfotos oder Couple Shootings bis hin zu Pressefotos für all jene, die eine professionelle fotografische Repräsentanz in den Medien brauchen. www.pamelarussmann.at


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