von Pamela Rußmann
„Wenn das so weiter geht, läuft uns der Sommer davon“, seufzt L., und ich kann nicht anders, als in Solidarität mit ihr zu seufzen, während wir gegen den Wind und stürmisches Haar ankämpfend unsere Regenschirme einklappen. Es stellt sich heraus: Ins Museum zu gehen, das war keine verrückte Einzelentscheidung von uns Freundinnen an diesem Sommer-(LOL!)-Sonntag. Wir liegen im Trend. Die Schlange am Ticketschalter ist der objektive Beweis. Schlecht für die Freibäderstatistik, gut für Indooraktivitäten – das ist zusammengefasst der Sommer 2023 in Österreich.
Nachdem ich in eine neue Ära eingetreten war, nämlich die „Mein Kind hat die Schule abgeschlossen“-Ära, habe ich Anfang des Jahres beschlossen, die Hauptreisezeit Juli und August jenen zu überlassen, die umständehalber nicht anders können. „Ich bin jetzt wieder Team Nebensaison“, habe ich großzügig verkündet. „Heuer bleibe ich den ganzen Sommer über zu Hause!“
Nach drei Jahren pandemischem Sich-die-Lage-schön-Reden ist meine euphemistische Ader ausgetrocknet. Ich WILL sagen dürfen: Bei dem Wetter geh ich nicht raus!
Nun, da die Schulferien, mit denen ich erfolgreich nichts mehr zu tun habe, bald vorbei sind, darf ich resümieren: Im Juli war es so heiß, dass ich wegen der Hitze tagsüber hauptsächlich in der Wohnung war; in der ersten Augusthälfte war ich hauptsächlich in der Wohnung, weil es mir draußen zu nass, zu windig, zu kalt und einfach zu ungemütlich war.
Carpe diem, jo eh, und ein Spaziergang bei Regen kann wahnsinnig romantisch und entspannend sein, die Feuchtigkeit ist fantastisch für den Teint etc. pp., aber ganz ehrlich: Nach drei Jahren pandemischem Sich-die-Lage-schön-Reden ist meine euphemistische Ader ausgetrocknet.
Ich WILL sagen dürfen: Bei dem Wetter geh ich nicht raus. Nein, ich möchte nicht am 3. August mit Trenchcoat, Schirm und wasserfestem Schuhwerk durch die Stadt strawanzen, frühestens am 3. Oktober. Nein, ich mag auch nicht noch mehr Bücher lesen, eingewickelt auf der Couch in der Kuscheldecke, mit dampfendem Kräutertee unter der Nase.
Ich warte immer noch auf die Einlösung der Versprechungen und Verheißungen eines Sommers, so wie ich ihn erinnere.
Wir Menschen sind alles Mögliche. Homo ludens, homo oeconomicus, homo sapiens, you name it, aber vor allem sind wir Gewohnheitstiere. Wir leben von und mit verlässlich wiederkehrenden Ritualen, die die 24 Stunden des Tages, die sieben Tage der Woche, die 12 Monate des Jahres strukturieren. Stabilität bedeutet zu wissen: Es ist Ende September und die Spekulatiuspackungen liegen bereit in den Supermarktregalen. Stabilität bedeutet: Es ist der 1. Mai und die Freibäder öffnen. Dieses ist das erste Jahr, in dem ich noch kein einziges Mal schwimmen war, weil siehe oben. Wenn also Gewohnheiten, eine gewisse Verlässlichkeit im Jahreskreis, sich vertschüssen, dann strampelt meine erlebte Vergangenheit gegen eine äußere Entwicklung, die ich in mein System noch nicht integriert habe. So ist das vorherrschende Gefühl des Sommers 2023 folgerichtig Ohnmacht.
Ich will die Trägheit des Hochsommers spüren und jenen Kipppunkt feiern, wenn eine herrliche Wurschtigkeit, die österreichische Entsprechung der italienischen Dolce Vita, die Seelen ergreift.
Ich warte immer noch auf die Einlösung der Versprechungen und Verheißungen eines Sommers, so wie ich ihn erinnere. Ich will mit von Chlorwasser benetzten Fingern Freibadpommes in Ketchup und Mayo tauchen, ich will den süßlich-stechenden Geruch von Sonnencreme in der Nase, ich will Eis, das auf Kinderhände, Kinder-T-Shirts und Mamabäuche tropft. Ich vermisse die Platscher und Spritzer vom Becken, die mich beim Dösen in der gleißenden Sonne sanft abschrecken wie al dente-Nudeln nach dem Kochen. Ich will die Trägheit des Hochsommers in jeder Zelle meines Körpers spüren und jenen Kipppunkt feiern, wenn eine herrliche Wurschtigkeit, die österreichische Entsprechung der italienischen Dolce Vita, die Seelen ergreift und man sich denkt: „Wieso kann das nicht immer so sein?“, wissend, dass genau in dem „nicht immer“ der Zauber liegt.
Ich sehne mich nach dem monotonen, entfernt aus dem Unterholz an mein Ohr dringenden Sound von ledergegerbten Pensionistentratscherln. Ich will aus den verzwickten Sehschlitzen selbstbewussten jungen Menschen beim Flirten und neckischen Annähern zusehen.
Sommer ist, wenn man nur zum Schlafen in die stickige Wohnung zurückkehrt, die halbnassen Badesachen achtlos und verwurschtelt auf den Wäscheständer oder über ein Balkongeländer wirft und die Reste vom Nudelsalat direkt aus der Tupperware gierig im Stehen reinschaufelt. Stattdessen denke ich mir, oh, es ist ja ganz schön kalt in der Küche, ich sollte das Fenster schließen, nur um Sekunden später draufzukommen, das Fenster ist ja gar nicht offen. Ich habe jetzt jene 21 Grad Raumtemperatur, die ich mir im Winter nicht gegönnt habe wegen allgemeiner Gasmangelhysterie und explodierenden Energiekosten. Ich bin kurz davor, den Kopf unsanft auf der Tischplatte abzulegen und mir die Welt aus einer neuen Perspektive anzusehen.
Sommer bedeutet Leichtigkeit, Laissez-faire und Leben außerhalb der vier Wände. In diesen Monaten sammle ich – Achtung: böses Wort! – normalerweise kleine und große Erinnerungen, die mich im getakteten Alltag des Restjahres begleiten. In dieser Disziplin habe ich heuer vollumfänglich versagt. Ein schwacher Trost, den ich mir aufs Frühstücksbrot streiche: Ich bin nicht allein mit meiner Sommervermissungsplage. Reihenweise werden mir Klagen zugetragen von gelangweilten Kindern und Ehemännern, denen die Decke auf den Kopf fällt. Schmerzverzerrte Gesichter, wenn Christa Kummer erstmals in der Saison das desaströse Kompositum „Schneefallgrenze“ über den Bildschirm schickt. Und während wir Erwachsenen also einem Etwas nachtrauern, das rein faktisch wahrscheinlich eh keiner Überprüfung standhalten würde, schaffen wir für unsere Kinder jene Erinnerungen, auf die sie in 20, 30 Jahren zurückblicken werden. Ob sie sich wohl dann auch nach einem „Sommer wie damals“ sehnen? Es sei ihnen in sentimentaler, die Realität ignorierende Verklärung vergönnt.
Fotos: Copyright Pamela Rußmann
Unsere Autorin
Pamela Rußmann ist Chefredakteurin bei myGiulia. Sie fotografiert seit ihrer Kindheit und parallel dazu schwingt stets die Liebe zu(m) Texten mit: Sie arbeitete beim ORF-Radiosender FM4, ist Gründungsmitglied der ORF-Late-Night-Show „Willkommen Österreich“. Für das Jahr 2020 hatte sie ein neues Lebenskapitel geplant, sie zog einen Schlussstrich unter ihre Fernsehtätigkeit, ab Mitte März war alles darauf ausgerichtet, den Fokus komplett auf die Fotografie zu legen. Doch dann kam der erste Lockdown und ihr bereits schön gefüllter Kalender war plötzlich leergefegt. Aber der Lockdown hat sie nicht blockiert, sondern sie hat in dieser Zeit ein kreatives Projekt entstehen lassen und im Lockdown Frauen auf der ganzen Welt zu einem Online-Shooting gerufen – deren Portraits und Gedanken zur Pandemie sind im bewegenden Buch: „Irgendwann geht auch das vorbei“ festgehalten.
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