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Love Thy Neighbor oder warum ein bisschen Mut meinem Nervengeflecht gut tun würde

von Pamela Rußmann


Titelbild Haus in rosa I myGiulia


Als Kind hatte man durchaus exakte Vorstellungen davon, welche Bedeutung gewisse Dinge später im Erwachsenenleben einnehmen würden. Als gesetzt galt etwa, dass man dann endlich so lange aufbleiben kann, wie man will. Faktisch richtig, hat aber jeden Reiz verloren ab der ersten Nacht in der eigenen Wohnung. Oder dass nie mehr jemand entnervt schreien würde: „So jetzt is aber Schluss mit dem vielen Fernsehen, du kriegst ja noch viereckige Augen.“ Der Satz ertönte tatsächlich nach Jahren in ähnlicher Tonalität wieder, durch eine zugedroschene Zimmertür, nur dass ich inzwischen von der Empfängerin zur Senderin geworden war.


Völlig unterschätzt hatte ich allerdings die Bedeutung jener teils namen- und/oder gesichtslosen Menschengruppe, derer man im Jahreskreis selten ansichtig wird und die man eher hört als sieht. Jene, mit denen man unter demselben Giebelkreuz wohnt. Wand an Wand, Decke an Boden, Boden an Decke. I am talking about Nachbarn und Nachbarinnen.


Ein Wohnungswechsel an sich ist aus vielerlei Gründen überflüssig wie ein Kropf. Immobilienseiten sind nur so lange ein lustiger Zeitvertreib für dröge Sonntagnachmittage, solange man nicht ernsthaft eine Wohnung braucht. Bei den angeführten Nettomonatsmieten meint man sich bisweilen in der Spalte für das Bruttomonatsgehalt einer Vollzeitstelle wiederzufinden. Selten allerdings noch habe ich bei Wohnungsanzeigen einen Nachweis des Gebäudeklimas in Sachen hausinterner Lärmbelästigung gefunden.



„Wohnt da ein Elefant über dir?“, witzelt der Umzugshelfer.


Am Beginn des Umsiedelungsprozesses rollt man die Unterhosen noch fröhlich einzeln zu einem architektonischen Kunstwerk zusammen und freut sich über Konzerttickets aus dem Jahre Schnee, die plötzlich in Schubladen auftauchen, deren Existenz man vergessen hatte. Die Existenz der Schubladen wohlgemerkt. Nach etwa 55 Minuten wird wahllos und ohne Rücksicht auf Faltenwurf gestopft. Nach weiteren 30 Minuten entfernt man sich von der Idee, den Inhalt für die elenden, gebrauchten (man ist ja so nachhaltig!) Pappkartons nach Wohnräumen zu organisieren. Hauptsache, es geht was weiter! Einpacken, Ausmisten, Umräumen, Sortieren, man marikondot amateurhaft vor sich hin, nix sparkt joy. Irgendwann ist das Entsorgen, das Loswerden von Dingen allein deshalb schon die einzig verbliebene Freude, weil einen jedes Gramm, das nicht in die neue Behausung geschleppt werden muss, mehr erleichtert als jede Saftkur.


Wenn man dann endlich im neuen Mehrparteienhaus einreitet, ist zwar (hoffentlich!) die neue Wohnung vorab gut besichtigt worden, aber Moment mal, was ist das denn? Wromp – wromp – wromp. „Wohnt da ein Elefant über dir?“, witzelt der Umzugshelfer. Sagen wir so: Ich weiß nun, dass „lebenslustige“ Student*innen-WGs und Deckenlampen bestehend aus einem frei schwingenden Glaskörperensemble sich eher ungünstig auf mein Nervenkostüm auswirken. Zwei Jahre habe ich durchgehalten. Dann habe ich das delikate Ensemble mit hundsordinären Kabelbindern radikal voneinander getrennt. Wenn ich nun nachts aufwache, dann wenigstens nicht wegen wromp – wromp – wromp und klonk – klonk – klonk. Nein, ich bin nicht bei der WG über mir vorstellig geworden mit einer Batterie Filzpatschen in der Hand und der Bitte um achtsameres Auftreten am Parkettboden. „Feig!”, höre ich euch rufen. Ja. Eh.



Meine Konfliktfreude hat Grenzen und meine Freund*innen hören mir gern zu, wenn ich über mein Leid mit der Nachbarschaft klage. Behaupte ich jetzt mal.


Nächtliche Geräuschkulissen haben in der Gegenwart mitunter auch einen rein finanzkapitalistischen Hintergrund. Eine Bekannte aus Norwegen berichtete letztens, dass der Energieversorger ihrer Nachbar*innen im Stockwerk über ihnen zwischen Mitternacht und sechs Uhr früh einen besonders günstigen Stromtarif anbietet. Was zur Folge hat, dass Waschmaschine und Geschirrspüler bei jener Familie mehrmals die Woche bis 3.30 Uhr früh rumpeln und meiner Bekannten die Tränensäcke der Schlaflosigkeit unter die Augen treiben.




Mein Bild von Nachbarschaft hat ein Film geprägt, der in der ungeschriebenen Liste meiner persönlichen Top 10-Filme einen ziemlich hohen Rang belegt: Alfred Hitchcocks „Das Fenster zum Hof". Dieses meisterliche Werk aus den 1950er-Jahren ließ mich träumen von einem abgeschlossenen, vierkantigen Innenhof, über dem die Geräuschkulisse der Großstadt wie eine sanft zerfledderte Cirrostratuswolke liegt (natürlich minus des Gewaltverbrechens, das vis-à-vis von Jimmy Stewarts Wohnzimmerfenster begangen wird). Der Blick hinaus würde eine Vielzahl von Fenstern und Balkonen freigeben. Parterre-Bewohner*innen würden winzige Grünparzellen gartenarchitektonisch anhübschen. In lauen Sommernächten untermalt gedämpfte Pianomusik zartes Grillenzirpen. Der eine oder andere Gesprächsfetzen dringt ans Ohr. Amüsiertes Gläserklirren erzählt von einem Fest, zu dem man nicht eingeladen ist. Auf jeden Fall würde es eine ganze Menge zu beobachten geben. In Cinemascope, in meiner Fantasie.


Weniger leiwand und weniger hollywoodmäßig ist es, zu beobachten, wenn eine Nachbarsfamilie auf die Idee kommt, einen Basketballkorb für die sportbegeisterten Buben im gepflasterten Innenhof aufzustellen. Wromp – wromp wechselte sich in einer Endlosschleife ab mit z-gonkk – ba-tsch – ba-tsch – z-gonkk – peng. Selten habe ich innerlich um mehr Handyzeit für Kinder gebeten als zwischen April und Oktober 2019. Beschweren? Keifen? Hausverwaltung anheizen? Nö. Lieber: Oooohmmm!


Eine humorbegabte, kreative Bekannte hat in Studentenzeiten ihren sehr eigenen Umgang mit ausufernder Geräuschkulisse nach 22 Uhr gefunden. Wenn sie selbst – ja, sie! Selbst! – wieder mal zu hart gefeiert hatte in ihrer Wohnung, befestigte sie am nächsten Tag einfach einen anonymen Beschwerdebrief am schwarzen Brett, in dem sie die werte Hausgemeinschaft darauf hinwies, dass bitte die Nachtruhe einzuhalten sei, es gäbe schließlich Leute, die früh aufstehen müssten oder einen leichten Schlaf hätten. Was für ein couragierter Bossmove, dachte ich mir da nur.

Das Leben besteht zu 10 Prozent daraus, was dir passiert und zu 90 Prozent daraus, wie du darauf reagierst, habe ich im Internet neulich gelesen, und manchmal hat das Internet recht.



 

Unsere Autorin


Unsere Autorin Pamela Rußmann I myGiulia

Pamela Rußmann ist Chefredakteurin bei myGiulia. Sie fotografiert seit ihrer Kindheit und parallel dazu schwingt stets die Liebe zu(m) Texten mit: Sie arbeitete beim ORF-Radiosender FM4, ist Gründungsmitglied der ORF-Late-Night-Show „Willkommen Österreich“. Für das Jahr 2020 hatte sie ein neues Lebenskapitel geplant, sie zog einen Schlussstrich unter ihre Fernsehtätigkeit, ab Mitte März war alles darauf ausgerichtet, den Fokus komplett auf die Fotografie zu legen. Doch dann kam der erste Lockdown und ihr bereits schön gefüllter Kalender war plötzlich leergefegt. Aber der Lockdown hat sie nicht blockiert, sondern sie hat in dieser Zeit ein kreatives Projekt entstehen lassen und im Lockdown Frauen auf der ganzen Welt zu einem Online-Shooting gerufen – deren Portraits und Gedanken zur Pandemie sind im bewegenden Buch: „Irgendwann geht auch das vorbei“festgehalten.

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