TEXT: MARITA HAAS
Kann man das Leben nochmal neu entwerfen, wenn man schon in der Mitte angekommen ist?
Im Sommer treffe ich eine Freundin auf der Straße. Wir haben uns lange nicht gesehen, sicher sechs, sieben Jahre. „Mein Gott, wir sind alt geworden!“, lache ich und umarme sie. „Wir sind nicht alt“, sagt sie, „wir sind in der Mitte des Lebens.“
In der Mitte. Haben wir nicht gerade erst begonnen? Ist wirklich schon die Hälfte vorbei?
„Was machst du so?“, frage ich sie und merke, dass die Frage – so wie immer – viel zu beruflich gemeint ist. Was wir machen, ist, wer wir sind, aber vor allem für mich stimmt es nicht. Ich war noch nie, was ich mache.
Weibliche Biographien entsprechen auch heute oft noch dem Prinzip „family first“; erst danach kommt das Eigene.
Die Unternehmerin und Podcasterin Laura Lewandowski sagt: „Mein Leben ist kein Business-Plan”, und meins ist wie ein Zick-Zack-Kurs, ein Suchen nach den richtigen Abzweigungen, verschiedenen Stationen, neuen Richtungen. Meine Freundin erzählt mir von einer Ausbildung, die sie gemacht hat, jetzt wo die Kinder aus dem Haus sind, von einem neuen Beruf. Und ich erinnere mich: Sie hatte eine klassische Rolle übernommen in der ersten Hälfte ihres Lebens, hat Haus, Garten und die Kinder organisiert, während ihr Mann auf Reisen war. Sie sei nun angekommen an dem Moment in ihrem Leben, an dem sie sich um sich selbst kümmern kann.
Family first!?
Weibliche Biographien entsprechen auch heute oft noch dem Prinzip „family first“; erst danach kommt das Eigene. „Das ungelebte Leben“ bezeichnet auch die Anteile eines Lebens, die nicht erfüllt wurden, Pläne, die nicht verwirklicht wurden und die dann – unter guten Rahmenbedingungen – in einer späteren Phase umgesetzt werden. Ansonsten bleibt es ein Leben für die anderen, manchmal sogar das Leben der anderen.
Wo stehe ich auf meiner Reise? Wieso fühlt es sich in der Mitte gleichzeitig nach Beginn und Ende an?
Meine Freundin hat also ihr Leben in zwei Hälften geteilt: einmal Familienzeit und Nestbau und jetzt das eigene Leben. „Ich bin angekommen“, sagt sie. Und sieht dabei glücklich aus.
Als ich ihr nachblicke, frage ich mich: Wo stehe ich auf meiner Reise? Wieso fühlt es sich in der Mitte gleichzeitig nach Beginn und Ende an? Ich bin nirgends angekommen und dennoch sind gewisse Dinge zu einem Ende gekommen. Die Familienplanung ist abgeschlossen. Einen Ort zum Leben zu finden – ist das abgeschlossen? Ich hatte Träume vom Haus am Meer oder auch einfach von einer anderen Stadt. Berlin, Stockholm, Kopenhagen – wieso sollte das eigentlich unmöglich sein? Manche Pläne habe ich verworfen, als die Kinder in mein Leben kamen. Wenn sie in ein paar Jahren hinausgehen aus meinem Leben und in ihres, könnte ich diese Pläne und Träume nochmals hervorholen? Kann ich nochmals neue Orte finden, denen ich mich zugehörig fühle, neue Räume, neue Settings?
Mein Leben passt mir nicht mehr
Der Wunsch nach etwas Anderem, Neuem; das Drängen, dass das noch nicht alles gewesen sein kann – ich weiß nicht mehr genau, wann und wie es begonnen hat. Vielleicht an dem einen Morgen, als ich vor meinem Kleiderschrank stand und Dinge herausgenommen und wieder zurückgelegt habe. Es war plötzlich klar: Die Kleidung passt nicht mehr zu mir. Der Blick in den Spiegel – etwas ist zu kurz, zu lang, meine Haare trage ich oft zusammengebunden wie eine Studentin – auch das: Passt nicht mehr, passt nicht zu den Falten im Gesicht. Wieso gefällt mir plötzlich nicht mehr, was ich trage, wie ich aussehe? Ich finde den einen Rock zu spießig, den anderen zu sexy, den nächsten zu formal, zu leger, ich lege alles wieder zurück. Wie könnte das aussehen, was zu mir passt?
Mein Leben passt mir nicht mehr. Es ist gleichzeitig zu groß und zu klein. Die Wohnung ist riesig, doch mir erscheint sie plötzlich klein und eng, ohne echten Rückzugsraum für mich und meine Bedürfnisse. Der Job erscheint mir zu einengend, das Angebot zu wenig zu mir passend, das Projekt wiederum zu groß, um es schaffen zu können. Und immer mehr drängt sich der Gedanke in den Vordergrund: Da muss doch noch etwas kommen, das kann noch nicht alles gewesen sein.
Vielleicht hat es auch viel früher schon begonnen. Sich ab Anfang 40 eingeschlichen, so wie in Fivas Song.
Ich sitz' in unserem Park, während ich die Zeilen tippe
Fahrt sofort den Rechner runter
Sagt eure Termine ab
Schaltet euer Handy aus
Ab auf′s Rad und in die Stadt
Kopf in den Fahrtwind
Hände vom Lenkrad
Jeder zieht das an,
was in seiner Kindheit Trend war
Um wirklich cool zu sein, sind wir viel zu alt
Raus in den Sommer, es wird früh genug kalt
(aus Fiva: „Ich will einen Sommer lang nur tanzen”)
Was ist wirklich wichtig?
Aber: Kann ich mein Leben, meinen Lebenssinn, überhaupt noch einmal neu denken? Warum weiß ich plötzlich nicht mehr, was wirklich wichtig ist? Ich wusste eigentlich immer alles. Ich wusste, dass ich im Ausland arbeiten möchte, also habe ich im Ausland gearbeitet. Ich wusste, dass ich eine Familie gründen möchte, also habe ich eine Familie gegründet. Ich wusste auch, ab wann diese Familie nicht mehr funktionierte und dass ich gehen musste. Ich wusste, dass bestimmte Dinge in den Hintergrund rücken, wenn man versucht, in einem 7-köpfigen Patchwork-Setting zu überleben, und ich wollte genau das. Doch was will ich jetzt?
Vielleicht hat meine Freundin etwas richtig gemacht – die eigene Zukunft hinausgeschoben, und jetzt lebt sie sie, während ich mir viele Fragen stelle. Die Beschränkungen, das Da-Sein für andere hat sie hinter sich gelassen und geht nun alleine weiter.
Auch wenn Lebensentwürfe heute individueller denn je sind, zeigt uns die Biographieforschung, dass die erste Lebenshälfte geprägt ist von einem „Wohin“ – einem Weg ins Leben, in die Karriere, in die Familienplanung. Würde ich alles genau so noch einmal machen, wenn ich wüsste, was ich heute weiß? Wäre ich all die Kompromisse eingegangen, hätte ich immer noch versucht, alles gleichzeitig zu machen, das berufliche und das private Leben nebeneinander zu stellen, und dafür ein Stück Identität zu verlieren? „Du hast eine Midlife-Crisis“, sagt meine Schwester, und vielleicht stimmt das. Ich möchte jetzt reduzieren, ausmisten, Ballast abwerfen und nach vorne schauen. Es gibt keine Richtung, kein konkretes Ziel, aber den Wunsch, ein gutes Leben zu führen. Und keine Kompromisse mehr zu machen.
Das Leben ist zu kurz für Zeitmanagement
Viele Weichen sind schon gestellt worden. Was kann noch verändert werden, was nicht mehr? Von der Mitte aus erscheinen Anfang und Ende gleich weit entfernt – der Weg ist noch lange, war aber auch schon weit.
Von jetzt an erzählt sich meine Geschichte neu
In der Morgenmeditation von Inner Garden sagt meine Lieblingsstimme: „Denke an das, was du dir am allermeisten wünschst“, doch ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nicht, wohin es gehen könnte, jetzt wo so vieles schon passiert und abgeschlossen ist. Den eigenen Weg, die eigene Mitte zu finden, dafür gibt es viele Tipps. Self-Care, Me-Time, Morgenroutine, Eisbaden… Schließlich lese ich das Buch „4000 Wochen” von Oliver Burkeman. Er kritisiert unseren Umgang mit Zeit und den Versuch, alles gleichzeitig machen zu wollen. „Das Leben ist zu kurz für Zeitmanagement“, sagt er. Lieber priorisieren, manche Träume streichen und andere dafür groß werden lassen. 4000 Wochen dauert ein durchschnittliches Leben. Das bedeutet für mich: 2000 gehören bereits der Vergangenheit an.
Ich kann nicht noch einmal zurückgehen, noch einmal neu beginnen, Entscheidungen anders treffen oder weniger arbeiten. Aber gerade jetzt möchte ich nicht mehr darüber nachdenken, wer ich war, sondern wer ich noch sein kann. Von jetzt an erzählt sich meine Geschichte neu.
Auf in ein neues Jahr. Auf in einen neuen Lebensabschnitt.
Unsere Autorin
Marita Haas spricht und schreibt über Gender Equality, Ungleichheiten in der Arbeitswelt und wie man sie beseitigt. Sie glaubt an Fairness, Kollaboration und die Forderungen der GenZ und hat in diesem Zusammenhang mehr als 60 Organisationen beraten. Marita lebt in Wien in einer Patchworkfamilie mit 5 Kindern und träumt vom Haus am Meer.
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