von Pamela Rußmann
Er ist mit 150 cm Größe deutlich kleiner als ich, wenn wir so nebeneinander stehen. Aber dafür komme ich ohne Hilfsmittel von allen Seiten gut an ihn ran. Nackt sieht er zugegeben ein wenig mager aus. Aber wenn ich ihn mit all meinen bunten Schätzen, die sich über die Jahre angesammelt haben, aufrüsche, dann machen auch hartgesottene Zeitgenossen bei seinem Anblick strahlende und durchaus erstaunte Augen. Erstaunt deshalb, weil es scheinbar nicht allzu viele Haushalte mit einem schreiorangen Christbaum aus Plastik gibt, der prominent im Wohnzimmer platziert ist.
Für mich ist er ein Fixpunkt in der Vorweihnachtszeit – ja, richtig gelesen, Vorweihnachtszeit. Meiner wird nämlich seit 18 Jahren pünktlich am ersten Adventsonntag aus seinem staubigen Kartonhaus ausgepackt, zusammengeschraubt und aufgestellt. Dass das falsche Bäumchen bei diesem Prozedere jedes Jahr zehn bis 15 Plastik-“nadeln“ verliert, erkenne ich gerührt als schauspielerische Geste an: er tut als ob. Für mich! Schon süß, oder!
Damals also, vor 18 Jahren, habe ich mich in einem spontanen Muttertiergefühlsausbruch in die wogenden Massen der vorweihnachtlichen Einkaufsmeile gestürzt und in einem Möbelhaus einen Plastikweihnachtsbaum gekauft. Weil mir in meinem hormonellen Gaga als stillende Jungmama ein Gedankenzug durchs Hirn gebrettert ist: Dezember ist’s, Weihnachten steht vor der Tür, ihr Kinderlein kommet, ich hab ein Kind, oh du fröhliche, ich brauche sofort Stimmung in der Bude. In Seventies-Orange. Gut, es hätte das Objekt auch in Fichtengrün gegeben, aber wer will schon ins Spießbürgertum wechseln mit Ende Zwanzig.
Mit dem ersten Kind besinnt man sich als Erwachsene unwillkürlich und weil man keinen anderen Kompass zur Verfügung hat, um den Alltag zu überleben, an die eigene Kindheit. Genauer gesagt gelangen jene Ornamente, Fragmente und Ereignisse an die Oberfläche, die zusammengeschmolzen in der Rubrik „Kindheit“ abgespeichert worden sind.
Einer der wichtigsten, schönsten und verlässlichsten Tage des Jahres war der 24. Dezember. Ab dem Aufwachen war Fernsehen erlaubt, yesss, wobei die tschechischen Weihnachtsmärchenfilme (Haselnüsse anyone?!) ehrlich gesagt eher zum Fürchten waren. Aber wenn man Glück hatte, konnte man in die Arme von Mary Poppins springen, mit Rauchfangkehrern über den Dächern Londons steptanzen, das Fassungsvermögen weiblicher Handtaschen bestaunen und nebenbei eine kindgerechte Lektion über Sufragetten, Finanzkapitalismus und Klassenkampf lernen. Oder mit dem lässigen „Tschitti Tschitti Bäng Bäng“ durch fantasievolle Musicalwelten reisen. Oder dem komischen Michel von Lönneberga beim Schlimmsein zuschauen. Herrlich.
Da man die Kinder natürlich nicht den ganzen Tag vorm Fernsehkastl parken konnte, aber bis zur Bescherung doch ganz schön viel Tageszeit rumzubringen ist, wurden wir zu Oma und Opa gebracht, wo es freundlicherweise mit dem Fernsehen und dem Kekse essen nahtlos weiterging. Wenn die Fragereien allzu nervtötend wurden, wann es denn endlich so weit sei und ob das Christkind bitte endlich fertig sei mit der Geschenkeeinpackerei, dann wurde es nochmal sportlich. In den frühen 80ern war es zu Weihnachten selbstverständlich noch zuverlässig immer so kalt und tiefst verschneit – ich schwöre –, dass wir entweder auf zugefrorenen Teichen eislaufen oder auf pittoresken Hängen Schlitten fahren gegangen sind. Um das Bild noch weiter zu malen: Wir kehrten verschwitzt mit roten Bäckchen zurück in die ofenwarme Stube und jubelten, als das berühmte goldene Glöckchen endlich anzeigte, dass wir nun in das geschmückte Wohnzimmer mit dem sensationellen, naturgewachsenen, raumhohen Christbaum und den darunter drapierten großen und kleinen Packerln eintreten mögen.
Es sind nicht die Geschenke, die sich eingeprägt haben (ok, bis auf eins, das sensationelle Karton-Barbie-Wohnhaus mit dem handbetriebenen Lift!). Es ist das Drumherum, das wie eine weiche, aber belastbare Wolke in der inneren Heimat bleibt.
Es ist die Achtsamkeit, die in die Vorbereitungen gesteckt wurde, die man als Kind natürlich nicht als solche erkennt, in der Rückschau erst deutlich wird. Es sind die Kabbeleien von gestressten Erwachsenen, die sich in die Haare kriegen, weil irgendwas nicht exakt so klein geschnibbelt worden sei wie angeordnet und überhaupt alle im Weg stehen schon wieder. Es ist der Geruch von Tannennadeln, Kerzenwachs und Weihrauch. Das aufgeregte Warten. Die leisen Klänge des Regionalradios im Hintergrund. Die unförmigen Papiersterne, die wir ausgeschnitten und an die Fensterscheiben gepickt haben. Und die Verlässlichkeit, dass man nun an drei aufeinander folgenden Tagen definitiv zu viel essen würde und alle nahen und fernen, alten und jungen Verwandten mit all ihren Spleens und Herzlichkeiten zu sehen bekommen würde.
All dieses reproduzieren zu wollen für mein eigenes Kind ist selbstredend eine Idee, die bereits mit dem ersten Gedanken nur scheitern konnte, daher ließ ich sie gleich fallen. Was war und was ist, sind völlig unterschiedliche Ausgangspunkte und Zustände, andere Menschen, andere Orte, andere Zeit.
Wir können nur mit den Gegebenheiten arbeiten, die uns die Gegenwart darlegt. Auf die Landkarte, die meine Familie für mich gezeichnet hat, schaue ich dennoch zur Orientierung.
Ich habe einen neuen, einen erweiterten und kombinierten Erinnerungsraum gestaltet. Ich habe zum Beispiel eingeführt, dass der 24. Dezember schon ein paar Wochen vorher beginnt, damit wir von diesen eng getakteten Wochen der Vorweihnachtszeit mehr haben. Wir haben Christkindlmärkte aufgenommen in unsere Tradition, etwas, das es zum Beispiel in meiner Kindheit nicht gab. Wir gingen eislaufen auf Kunsteisbahnen mitten in der Stadt. Wir besuchen nach wie vor möglichst viele weihnachtliche Lichterketteninstallationen in der Innenstadt. Und der größte Luxus ist wohl, dass wir mit dem 24. Dezember in die Weihnachtswelt von Oma und Opa eintauchen können. Best of both worlds, würde ich sagen. Übung gelungen.
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