„Wie wenn ein Bohrer auf einen empfindsamen Nerv trifft"
TEXT & INTERVIEW: KATHARINA SABETZER
Lange Zeit glaubte man, autistisch seien ausschließlich weiße Buben. Mittlerweile weiß man, dass sich Autismus bei Mädchen etwas anders zeigt als bei Jungen. Viele Autistinnen werden daher erst im Erwachsenenalter diagnostiziert. Mitunter, wenn ihre Kinder autistische Verhaltenszüge zeigen.
„Ich war früher immer der Meinung: Wenn ich nur genug an mir arbeite, dann wird das irgendwann einmal weggehen“, erzählt die freischaffende Künstlerin Simone Dueller. „Wenn ich mich nur ordentlich zusammenreiße oder wenn ich genug für Entspannung sorge, werde ich irgendwann einmal ein normales Leben führen. Und wenn es nicht geht, dann liegt es an mir.“
„Mama, das bist du!”
Die Arbeit an sich selbst als Lösung, um in einer Welt, auf die sie eine andere Perspektive hat als viele andere, bestehen zu können: Simones Weg durch zahlreiche unterschiedliche Diagnosen – sehr häufig psychische Erkrankungen, aber auch chronische Erkrankungen des Immunsystems – war lange. Bis sie im Alter von 38 Jahren die Diagnose Autismus erhielt.
Eigentlich sollte jemand aus Simones privatem Umfeld auf Autismus hin untersucht werden und die Familie hatte sich deshalb mit einem Online-Test auseinandergesetzt. „Das war dann der Moment, in dem mich meine Kinder angeschaut haben und gesagt haben: ‚Mama, das bist du!‘“, berichtet die mittlerweile 40-jährige Künstlerin aus Kärnten, die Anfang 2023 mit ihrem Instagram-Kunstprojekt „100 Days of … insight autism“ einen umfassenden Fundus an Quellen, Beschreibungen und Perspektiven zu Autismus kreiert hat.
Simones Geschichte ist üblich für Autistinnen, die erst im Erwachsenenalter diagnostiziert werden. Denn gerade bei Frauen wird der eigene Autismus oft erst dann entdeckt, wenn ihr Kind oder ein anderes Familienmitglied durch den Diagnoseprozess läuft und bestimmte Parallelen erkannt werden.
Instagram-Kunstprojekt „100 Days of … insight autism“ von Simone Dueller / @simone_du_elle
Lange Zeit ging man davon aus, dass Autismus nur bei weißen Buben auftritt, aber Statistiken aus den USA zeigen, dass die Diagnosen auch in Schwarzen und Latino-Communities steigen. Sowie auch bei Mädchen. „Diese historische Fehleinschätzung gründet zum Teil in den Kriterien für die Diagnose von Autismus: Sie basieren auf Daten, die ‚fast ausschließlich‘ aus mit Jungen durchgeführten Studien stammen“, schreibt Caroline Criado-Perez in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“. (Ihre Quelle: Autism--It's Different in Girls | Scientific American)
Autismus oder Asperger-Syndrom?
Die 11. Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO (ICD-11) legt unter der „Autismus-Spektrum-Störung“ drei Diagnosekriterien fest: Defizite in der Fähigkeit, wechselseitige soziale Interaktionen und soziale Kommunikation zu initiieren und aufrechtzuerhalten, sowie eingeschränkte, sich wiederholende und unflexible Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten.”
Unter diesen Begriff fällt seither auch das im allgemeinen Sprachgebrauch häufig verwendete „Asperger-Syndrom“, das in Fachkreisen aufgrund der Nazi-Vergangenheit von Kinderarzt Dr. Hans Asperger, dem Erstbeschreiber von Autismus, nicht mehr verwendet wird (siehe dazu auch die Literaturhinweise am Ende des Texts). „Asperger-Syndrom ist immer noch ein sehr identitätsstiftender Begriff für viele, weil viele mit Autismus ein stärkeres Handicap verbinden“, erklärt Dr. Kathrin Hippler, Klinische und Gesundheitspsychologin in Wien, in diesem Zusammenhang. „Die grundlegenden Herausforderungen sind jedoch dieselben, sie sind beim Asperger-Syndrom nur mit besseren Kompensationsmöglichkeiten verknüpft. Denn je besser meine kognitiven Funktionen sind, je besser ich mich sprachlich ausdrücken kann, desto besser kann ich den Autismus kompensieren, dadurch aber auch manchmal verstecken.“
Schüchtern maskiert
Und genau dieses Verstecken ist eine Fähigkeit, die bei Autistinnen besonders ausgeprägt ist. Unabhängig davon, dass die medizinische Forschung lange Zeit nicht auf Frauen und Mädchen am Autismus-Spektrum hingesehen hat, weiß man mittlerweile, dass besonders Mädchen und Frauen dazu neigen, ihren Autismus zu maskieren. „Mädchen und Frauen beschäftigen sich zum Beispiel mit Psychologie und Körpersprache, sie lernen Gesichtsausdrücke wie eine Fremdsprache, sie passen ihre Mimik, ihre Gestik durch Kopieren anderer Personen an“, beschreibt Kathrin Hippler die Ausprägungen des weiblichen autistischen Phänotyps. Noch dazu lernen Mädchen etwas früher als Burschen, ihr Verhalten anzupassen, zumeist bereits im Alter von zwei oder drei Jahren, wohingegen der Autismus bei Burschen am ehesten zwischen vier und fünf Jahren deutlich zutage tritt.
Und: Ein Mädchen, das nicht sehr lange Augenkontakt hält, gilt gemeinhin als schüchtern. „Blickkontakt ist für Autist*innen sehr anstrengend“, erklärt Kathrin Hippler. Autist*innen verarbeiten Mimik, Gestik, Körpersprache nicht so intuitiv wie es Nicht-Autist*innen, also neurotypische Personen, tun. Und gleichzeitig müssen sie sich auch auf den Inhalt des Gesagten konzentrieren. „Das ist einfach zu viel. Autist*innen suchen sich deshalb oft einen Punkt an der Nasenwurzel, an der Nasenspitze oder am Kinn des Gegenübers, um Blickkontakt vorzutäuschen.“ Weil neurotypische Personen wiederum auf diesen Augenkontakt angewiesen sind.
Auch Helen Hoangs Protagonistin Stella in ihrem Bestseller „The Kissing Quotient“ arbeitet sich in einer Szene gedanklich durch den erforderten Augenkontakt. Drei Sekunden lang zählt sie mit, so wie sie es gelernt hat. Weniger als drei Sekunden würden Stellas Gegenüber das Gefühl geben, sie hätte etwas zu verbergen. Mehr als drei Sekunden beunruhigen die andere Person jedoch.
„It seemed nuts but I’d learned the world wasn’t going to change to accommodate me so I started practicing it”, schreibt die schottische Comedian, Podcasterin und Autorin Fern Brady in ihrem Buch „Strong Female Character”, in dem sie ihren jahrelangen Leidensweg (sowie auch die anfängliche Verleugnung) bis zu ihrer Diagnose durchwegs unterhaltsam beschreibt.
Am falschen Planeten gelandet?
Aufgrund so vieler Nuancen der non-verbalen Kommunikation, so viel intuitiver Interpretation bei Interaktionen neurotypischer Personen fühlen sich manche Autist*innen so, als wären sie auf einem falschen Planeten gelandet, wie Simone Dueller unter anderem in ihrem Kunstprojekt „100 Days of ... insight autism“ erklärt. Dabei zitiert sie aus dem Blog „Autistic not Weird”: „Some people say that being autistic makes you feel like you were born on the wrong planet. From my perspective, autism feels like everyone else landed on my planet, and then started telling me I was weird for seeing my world the way I do.”
„Ein Fisch leidet auch nicht am Fischsein. Ein Fisch leidet, wenn er an Land ist“, fasst Kathrin Hippler das Phänomen zusammen. „Autist*innen kommen mit ihrer besonderen, anderen Wahrnehmung in unserer Welt nicht so gut zurecht wie Nicht-Autist*innen.“ Durch diese oftmals so unterschiedlichen Perspektiven auf bestimmte Situationen und die unterschiedlichen Reaktionen darauf, entstehen Missverständnisse, Kränkungen und Verletzungen bis hin zu Ablehnung. Dazu kommt ein medial verstärktes Bild von manchmal beinahe als gefühlskalt porträtierten Autist*innen in Filmen und Serien.
Kunstprojekt „100 Days of ... insight autism“ von Simone Dueller
„Ich habe anfangs gedacht, das größte Problem bei der Akzeptanz von Autismus sind die eher schrägen und scheinbar exzentrischen Eigenschaften“, erzählt Simone Dueller. „Ich bin dann draufgekommen, dass dies in einer aufgeklärten Gesellschaft gar kein Problem ist, da kann man mit diesen Bedürfnissen umgehen. Die Missverständnisse, die es immer noch gibt, entstehen aufgrund von unterschiedlicher Kommunikation und unterschiedlichen sozialen Wertigkeiten. Ich weiß zum Beispiel nicht immer, wann ich fragen soll, wie es jemandem geht. Was wäre der Person jetzt wichtig? Was zeigt dieser Person, dass sie mir wichtig ist? Das ist eine riesige Quelle für Missverständnisse.“
Bedürfnisse kommunizieren
Wenn man sich mit der autistischen Perspektive auf die Welt eine Zeit lang auseinandersetzt, lernt man als neurotypische Person recht schnell bestimmte, womöglich ungewöhnliche Verhaltensweisen von Autist*innen nachzuvollziehen. Vermeintlich unhöfliches oder unwirsches Verhalten bekommt mit dem Wissen um Autismus eine andere Bedeutung. Oder auch wenn einer Person, die ständig Aktivitäten einer Gruppe bestimmt, Geltungsdrang unterstellt wird. Autistisch gelesen braucht diese Person womöglich „nur“ eine bestimmte Struktur und übernimmt deshalb stets das Kommando. Diese Schwierigkeiten im intuitiven sozialen Verständnis sind ein Kernpunkt von Autist*innen, die jedoch zu Missverständnissen führen können.
Und wie gelingt es, diese Missverständnisse möglichst zu vermeiden? „Bedürfnisse kommunizieren und ganz konkret sagen, was man will“, schlägt Simone Dueller vor – für beide Seiten. „Ich erkläre tatsächlich selten, dass ich Autistin bin. Was ich aber durchaus mache, und das hätte ich zuvor nie gemacht, ich gehe eher auf meine Bedürfnisse ein, zum Beispiel frage ich: Könnte man vielleicht die Heizung ein bisschen runterdrehen, weil ich so leicht schwitze? Könnte man die Musik ein bisschen leiser machen?“
Mit höchster Intensität
„Laute Geräusche lassen mich schwindeln, fühlen sich an, wie wenn ein Bohrer auf einen empfindsamen Nerv trifft“, beschreibt Addie das Erklingen der Schulglocke im Kinderbuch „Wie unsichtbare Funken“ von Elle McNicoll. Lärm, viele Menschen, starke Gerüche, grelles Licht erfordern von Autist*innen mehr sensorische Verarbeitung (und somit mehr Energie) als von neurotypischen Personen, die das Phänomen Reizüberflutung natürlich auch kennen. Jedoch in anderer Intensität.
Und die Intensität macht wohl auch den größten Unterschied zu neurotypischen Personen aus – in allen Bereichen, auch was die Interessen betrifft. „It’s only now that increasing numbers of health professionals understand to look for intensity of interest rather than unusual interests when assessing girls”, schreibt Fern Brady. „The public perception of autistics is so heavily based on the stereotype of men who love trains or science that many women miss out on diagnosis and are thought of as studious instead.” Fleißige Mädchen eben, die sich für mädchentypische Themen, wie etwa Pferde, interessieren oder die besonders gut Mangas zeichnen können, um nur zwei Beispiele zu nennen, fallen nicht auf.
Man spricht hier von Hyperfokus auf Spezialinteressen, denen Autist*innen nahezu obsessiv nachgehen. So wie sich Greta Thunberg etwa mit außergewöhnlicher Intensität dem Klimaschutz zugewandt hat. Und für diese Intensität immer wieder auch Unverständnis bis hin zu Misstrauen erntet.
Dieses Unverständnis schlägt Autist*innen auch dann entgegen, wenn sich so genannte Inselbegabungen zeigen. Wir wissen (und akzeptieren), dass Autist*innen binnen kürzester Zeit in ihrem Talentbereich Höchstleistungen erbringen, wir sind jedoch irritiert, wenn sie dann etwa daran scheitern, einfache Haushaltstätigkeiten, wie das Ausräumen des Geschirrspülers, zu erledigen. Wir kennen alle das Klischee des zerstreuten Professors, dem von seiner alles managenden Ehefrau so sehr der Rücken frei gehalten wird, dass er sein Genie ausleben kann. Eine Frau, die neben ihrer (nicht in einer Männerdomäne angesiedelten) Genialität am täglichen Einkauf oder im Haushalt scheitert, wird weitaus weniger romantisiert. Diese „spiky profiles“ sind häufig bei Autist*innen und sorgen in allen Lebensbereichen für Missverständnisse. Eine autistische Lehrerin, die ohne Probleme unterrichten kann, kann jedoch von den vielen Eindrücken und unverständlichen sozialen Codierungen im Lehrerzimmer überfordert sein. Oder die Mitarbeiterin, der man es nachsehen sollte, wenn sie die Mittagspausen mit zahlreichen Kolleg*innen in der Kantine (Lärm! Gerüche! Soziale Regeln!) ablehnt. „Wenn du nicht immer mitgehst, wenn die Kolleg*innen etwas trinken oder essen gehen, wird es in den meisten Teamkonstellationen dann doch ein Problem“, erzählt auch Simone Dueller, die sich – nach ihrer Autismus-Diagnose – mit den ungeschriebenen Regeln am Arbeitsplatz auseinandergesetzt hat. „Da gibt es irgendwelche Befindlichkeiten, irgendwelche Machtspielchen und Hierarchien, da steige ich aus. Aber ich habe es lange Zeit unter dem Aspekt gesehen: Ich halte nicht so viel aus wie andere.“
„It felt unfair that on top of working hard at your actual job you had to also work hard to perform the right social rules but could still be penalized because they’d randomly changed according to some invisible whim”, schreibt auch Fern Brady in „Strong Female Character”.
Und tatsächlich liegt die Beschäftigungsquote von Autist*innen (unabhängig von ihrem Unterstützungsbedarf und ihrem Bildungsgrad) bei nur 10 Prozent.
Kathrin Hippler plädiert daher im Arbeitsalltag (sowie anderen Alltagssituationen) für Verständnis für jene Situationen, in denen Autist*innen am meisten Schwierigkeiten haben: Situationen, die viel sensorische Verarbeitung benötigen (Lärm, Gerüche), Situationen, die viel soziale Interaktion erfordern (Gespräche in Gruppen) und Situationen, die besondere Flexibilität voraussetzen (kurzfristige Terminverschiebungen, schnelle Entscheidungen).
Auch hier gilt wiederum die empfundene Intensität als Unterscheidungsmerkmal zu Nicht-Autist*innen. Jede*r kennt die Herausforderungen der beschriebenen Situationen, aber für Autist*innen ist die Dimension eine andere.
Ist jede*r ein bisschen autistisch?
„Autistische Themen sind ja nicht die Probleme von irgendwelchen Außerirdischen“, sagt auch Simone Dueller, „jeder Mensch weiß, wie es sich anfühlt, wenn man mal überreizt ist, wenn man mal überfordert ist. Bei Autismus geht es um die Intensität und um die Häufigkeit.“ Und zwar so weit, dass es den Alltag einschränkt und man nicht mehr in vollem Umfang an der Gesellschaft teilnehmen kann.
Wer sich mit der Symptomatik von Menschen am Autismus-Spektrum auseinandersetzt, findet tatsächlich viele Begrifflichkeiten und Beschreibungen, die auf viele Menschen zutreffen können. Als autistisch diagnostiziert wird man jedoch erst, wenn alle drei Bereiche – soziale und kommunikative Schwierigkeiten sowie repetitive Verhaltensweisen und sensorische Auffälligkeiten – berührt werden und diese bereits seit der Kindheit in unterschiedlicher Ausprägung bestehen. „Ein einzelnes Symptom, zum Beispiel Wutausbrüche, machen noch keinen Autismus“, erklärt Kathrin Hippler. Ein Trotz- oder Wutanfall eines Kindes ist noch kein Meltdown. „Ein klassischer autistischer Meltdown ist wie ein Kurzschluss im Gehirn“, beschreibt die Autismus-Expertin. „Das Kind schreit und weint und es geht nicht darum, dass es etwas will oder ein Bedürfnis nicht befriedigt wurde. Der Beziehungsaspekt fehlt und neurotypische Personen sehen in diesen Situationen vermeintlich keinen Auslöser.“ Hier kommt auch dazu, dass eher Burschen zu externalisierendem Verhalten, also Aggressivität und Impulsivität, neigen und Mädchen öfters nach innen gerichtet reagieren. Nicht diagnostizierte autistische Mädchen kämpfen häufig später in der Pubertät, wenn soziale Beziehungen komplexer werden, mit Ängsten, Depressionen oder Essstörungen, weil die Überforderung, sich in einer nicht immer verständlichen Welt anzupassen, überhandnimmt.
Dieses Zuviel kann auch zu einem vorübergehenden Zustand des kompletten „Einfrierens“ führen. Statt des Meltdowns (oder auch nach einem Meltdown) erleben Autist*innen manchmal einen Shutdown. „Die Frauen beschreiben, dass sie komplett handlungsunfähig sind, sie fühlen sich wie gelähmt. Das Einzige, das hilft, ist eine komplett reizarme Umgebung: allein sein, Ruhe, runterkommen, schlafen“, erklärt Kathrin Hippler.
Zebras oder gescheiterte Pferde?
Laut Hippler empfinden 99 Prozent ihrer Klientinnen die Diagnose Autismus in erster Linie als erleichternd. „Weil sie endlich einordnen können, womit ihre besonderen Verhaltensweisen, ihre Schwierigkeiten zu tun haben.“
„Plötzlich habe ich ganz viel verstanden“, erzählt auch Simone Dueller über die Zeit nach ihrer Diagnose. „Die ersten Wochen danach war ich aber sehr verwirrt, wütend, traurig. Ich habe mich gefragt, was ich mir ersparen hätte können. Und: Wer bin ich wirklich? Wie bin ich wirklich? Was ist Maske? Was ist echt? Mein ganzes Leben war auf den Kopf gestellt.“ Unterm Strich war die Diagnose jedoch das Beste, was ihr passiert sei. „Sobald man weiß: So funktioniere ich einfach, versteht man sich und kann ganz anders mit sich umgehen.“
Unabhängig davon, ob jemand als autistisch diagnostiziert worden ist oder autistische Züge zeigt, ist es immer entscheidend, wie das Umfeld auf die Person reagiert und mit den Besonderheiten umgeht. Farblich codierte Zeitpläne etwa, an die man sich akribisch hält, geben autistischen Kindern Sicherheit und schenken so zusätzliche Energie, Neues zu erlernen. Im Erwachsenenalter empfehlen sich Anpassungen an den Alltag. Wenn einen etwa das Einkaufen im Supermarkt aufgrund des Lärms und der vielen Personen überfordert, empfiehlt es sich zu Tagesrandzeiten einkaufen zu gehen und zum Beispiel Kopfhörer zu tragen. Es geht darum, Autist*innen das Überleben in einer neurotypischen Welt zu ermöglichen. In der Arbeitswelt helfen Einzelarbeitsplätze, es hilft aber auch, generell gruppendynamische Erwartungshaltungen zurückzuschrauben. Je nachdem, welche Bedürfnisse es bei allen beteiligten Personen gibt.
Wie unsichtbare Funken
Denn egal, ob wir als neurotypisch oder neurodivergent gelten, ist es wohl in dieser krisengebeutelten Zeit vonnöten, sich der eigenen Bedürfnisse bewusst zu werden und diese im Umfeld zu kommunizieren beziehungsweise im weitesten Sinne auszuverhandeln, um zumindest im engsten Lebensbereich ein friedliches Miteinander zu ermöglichen. Was erleichtert unser Zusammenleben und unser Zusammenarbeiten? Mögliche Missverständnisse sollten angesprochen werden, bevor sie sich zu unüberwindbaren Konflikten entwickeln. Und man muss anerkennen, dass dieses Ausverhandeln immer wieder von vorne anfängt, wenn sich Bedürfnisse und persönliche Grenzen verschieben.
„Menschen sind keine Bücher“, konstatiert auch Addie in „Wie unsichtbare Funken“. „Ein vertrautes Buch ist immer gleich, immer tröstlich und voll mit denselben Wörtern und Bildern. Ein vertrauter Mensch kann immer wieder eine neue Herausforderung sein, egal wie oft du ihn zu lesen versuchst.“
Im Interview
Simone Dueller, geboren 1983 in Villach. Künstlerin, Kunstvermittlerin und Kulturarbeiterin. Außerdem DJ und Mutter von drei Töchtern. Gründerin des Villacher Kulturzentrums Kulturhofkeller und des feministischen Künstlerinnenkollektivs Damensalon. Mitglied von Theater a.c.m.e,- (Verein für befreites Theater). Jurytätigkeit bisher u. a. für den Gironcolipreis und Protestsongcontest. Stolze Preisträgerin des Kärntner Kulturvogels 2018. Kärntner Kulturpreis 2012 (Förderpreis Darstellende Kunst).
Dr. Kathrin Hippler studierte Psychologie an der Universität Wien und am King‘s College London und arbeitete über 10 Jahre an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde des AKH Wien im wissenschaftlichen und klinischen Bereich. Seit 2012 ist Kathrin Hippler in freier Praxis tätig. Seit fast 25 Jahren beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit Kindern, Jugendliche und Erwachsenen im Autismus-Spektrum.
Vielen Dank auch an Mag.a Marie-Christine Porstner für den Austausch während der Arbeit am Artikel.
Zum Weiterlesen
Elle McNicoll
„Wie unsichtbare Funken“
(übersetzt von Barbara König). Atrium Verlag 2023
Eine der intensivsten Beschreibungen, wie Autist*innen die Welt wahrnehmen. Wer sein Kind, seine Nachbarin, seinen Freund besser verstehen will, sollte sich das Buch zu Gemüte führen.
Fern Brady
Faszinierender und gleichermaßen unterhaltsamer Einblick in das Leben einer sehr lange undiagnostizierten Autistin.
Caroline Criado-Perez
„Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert.“
Btb. März 2020
Helen Hoang
„The Kiss Quotient” bzw. „Kissing Lessons”
(deutsche Übersetzung erschienen bei Rowohlt 2019)
Liebesroman mit einer Autistin als Protagonistin (sehr spicy!).
Edith Sheffer
„Aspergers Kinder. Die Geburt des Autismus im Dritten Reich“
(übersetzt von Stephan Gebauer). Campus Verlag 2018
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Unsere Autorin
Katharina Sabetzer ist seit bald zwei Jahrzehnten in der Kommunikationswelt tätig. Sie lebt und schreibt in Wien und in der Steiermark und ist Inhaberin der Kommunikationsberatung Erzählbar mit Sitz in Wien.
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