
BÜCHER
Wertpapiere für die Seele:
Die myGiulia-Lesetipps für deinen Sommer
Sommerzeit ist nicht nur Badezeit, sondern auch Lesezeit! Wir haben u. a. bei Schauspielerin Verena Altenberger, Regisseurin Marie Kreutzer und Krimiautorin Alex Beer nachgefragt, welche Bücher sie uns zum myGiulia-Monatsthema „Courage” ans Herz legen.

Empfehlung von VERENA ALTENBERGER
Schauspielerin
Mona Chollet
Ich bin aufgewachsen im Glauben, meine Mama sei eine Hexe. Meine Mama war eine Hexe, weil sie sagte, sie sei eine, und weil meine Großmutter eine Hexe war. Behaupteten die beiden. Wenn also meine Oma und meine Mama Hexen waren – war ich dann vielleicht auch eine? Im Kindergarten habe ich unter höchster Konzentration versucht, Gegenstände von einer Seite des Raumes zur anderen zu hexen, aber keine noch so starke Fokussierung, kein noch so ausgefallener Spruch konnte das bewirken. Musste das Hexen-Gen mich wohl übersprungen haben – ich war todtraurig. Im Schulalter schämte ich mich dann für meinen kindlichen Glauben, fand es doof, wenn meine Mutter weiterhin von sich als Hexe sprach; bei der Oma war‘s ok, Omas sind irgendwie weniger peinlich als Mütter… Später war es einfach eine nette Erinnerung an kreative Geschichten und lustige Rituale meiner Kindheit.
Und dann fiel mir vor wenigen Jahren die Flugschrift „Hexen: Die unbesiegte Macht der Frauen“ von Mona Chollet in die Hände. Hexen – das sind bei Chollet keine seltsamen Kauze im Knusperhäuschen, sondern Frauen, die bewusst selbstbestimmt und völlig unabhängig leben. Die sich in der Natur auskennen, sich Heilwissen erarbeitet haben, auf ihre Körper hören und in erster Linie sich selbst vertrauen. Die niemandem gehören, nicht einem Partner, nicht ihren Kindern. Und die sich solidarisch mit anderen Frauen verhalten. Die niemanden vorschnell verurteilen und die an die Macht der weiblichen Gemeinschaft glauben. Und die deshalb eine Bedrohung für ein patriarchales System sind. Hexen... Weise Frauen. Feministinnen. Ich kann immer noch keine Gegenstände von rechts nach links hexen, aber ich kann euch versichern: Meine Oma und meine Mama wären stolz auf mich, denn auch ich bin eine Hexe.

Empfehlung von ALEX BEER
Kriminalautorin
Édouard Louis
Ich bewundere Louis seit seinem literarischen Debüt „Das Ende von Eddy" und lese seither jedes seiner Bücher. In allen Werken von Édouard Louis geht es um Mut und Befreiung. Er, der homosexuelle Außenseiter, ins Arbeitermilieu der französischen Provinz hineingeboren, erlebt seit seiner Kindheit Armut, Gewalt und Diskriminierung. Schließlich gelingt es ihm, der Gosse zu entfliehen und in Paris Soziologie zu studieren. In seinen Büchern arbeitet er seine Vergangenheit auf und beschäftigt sich mit Themen wie Emanzipation, Identität, Familie und Klassengesellschaft. Dieses Werk ist seiner Mutter gewidmet, einer einfachen Frau aus der Arbeiterklasse. Schonungslos, aber dennoch liebevoll schildert Louis, wie sie es schafft, sich mit viel Courage aus ihrem unglücklichen Leben zu befreien und noch einmal neu anzufangen.
„Édouard Louis erzählt eindringlich und gnadenlos vom Wunsch, als Kind eine andere Mutter zu haben, und vom großen Glück, sie heute als befreite und glückliche Frau zu erleben."
Ich lege dieses und auch seine anderen Bücher („Das Ende von Eddy", „Im Herzen der Gewalt", „Wer hat meinen Vater umgebracht?", „Anleitung ein anderer zu werden") jeder und jedem ans Herz. Louis schreibt in einfacher und klarer Sprache und behandelt dabei so viele tief emotionale Themen, die uns alle betreffen.

Empfehlung von
KATHA HÄCKEL-SCHINKINGER
Leitung Kommunikation & Fundraising Caritas Österreich
Margaret Atwood
Ich war 16 Jahre alt und schwer verliebt in R., der zwei Jahre älter, zwei Schulstufen über mir, Leistungssportler und in Gestalt Adonis war und darüber hinaus problematische Geschlechterrollenbilder hatte. Heute würde man sein Verhalten als toxisch männlich bezeichnen, damals in den Neunzigern wusste ich es nicht besser. Wir führten eine On-Off-Beziehung, in der ich immer on war, er sehr oft off. Ich habe mich verbogen, verdreht, verstellt, habe gelächelt, gefastet und mich geformt, um ihm um jeden Preis zu gefallen. R.‘s Englischlehrerin fand seine Sicht auf Frauen offenbar empörender als ich damals und hat ihn nach einer Diskussion im Unterricht zu Gleichstellung von Mann und Frau zu einem Referat über Margaret Atwoods Debütroman „Die essbare Frau“ verdonnert. Empört über die Extraaufgabe fand R. in mir eine willige Referatserledigerin. Ich besorgte die deutsche und englische Version des Buchs, borgte mir Sekundärliteratur in der Linzer Bibliothek aus, nur um dem geliebten, toxischen R. eine tunlichst gute Referatsnote zu ermöglichen.
„Die essbare Frau“ war mein erster Atwood-Titel und mein 16-jähriges Ich fand erstaunlich viele Parallelen zur Protagonistin in Atwoods brillantem und wütendem Roman. Marian, Anfang 20 hadert mit ihrem Rollenbild, der Enge der Gesellschaft für Frauen, stellt ihre bevorstehende Hochzeit in Frage und reagiert körperlich auf groteske Art und Weise auf die Entwicklungen in ihrem Leben. Sie verliert den Appetit, findet ihn am Ende des Romans wieder gemeinsam mit ihrer Unabhängigkeit.
Ich fand den Einstieg in feministische Literatur. R. fand das Sehr Gut auf sein Referat geil, hat aber daran gezweifelt, dass ich den englischen Referatstext allein geschrieben habe. Das hat er mir, Mädchen und zwei Jahre jünger, nicht zugetraut. Die pädagogisch ambitionierte Initiative von R.‘s Lehrerin hat wohl seine Sicht auf die Welt nicht verändert, aber ich verdanke ihr und Margaret Atwood mein feministisches Erweckungserlebnis. R. hat sich irgendwann ganz von mir getrennt, nicht ich von ihm. Es hat noch einige Jahre gedauert, bis aus mir eine stabile Feministin wurde. Atwood lese ich immer noch gern, an Aktualität haben ihre Romane leider nicht eingebüßt. Die mittlerweile zerfledderte Ausgabe der essbaren Frau liegt seit heute wieder am Bücherstapel meines Nachtkastls.

Empfehlung von STEFANIE JAKSCH
Literaturarbeiterin
Marlen Haushofer
Lange habe ich mich um Marlen Haushofer gedrückt. „Die Wand“ war eines der ersten Bücher, die ich mir in der Buchhandlung Buchkontor kaufte, in der ich nach meinem Umzug von Heidelberg nach Wien arbeitete. Und sehr lange stand „Die Wand“ dann unberührt in meinem Regal, mich immer wieder mahnend, mich erinnernd, dass da etwas auf mich wartete – ich spürte aber auch, die Zeit war nicht reif. Einige Jahre später, es zeichnete sich eine grundlegende Veränderung sowohl privater als auch beruflicher Natur ab, kam ich nicht mehr daran vorbei: Der Roman schrie förmlich nach mir.
Ich erinnere mich, dass ich ihn eines Abends von seinem angestammten Platz nahm, mich auf die Couch setzte – und nicht mehr aufhörte zu lesen. Haushofers Sprachgewalt, ihre Gabe, ihren Finger in meine Wunden zu legen, ließ mich nicht mehr los. Selten habe ich bei der Lektüre eines Buches so sehr geweint, mich so grundlegend einmal von innen nach außen gestülpt gefühlt.
Bis heute spüre ich die Wellen der Erschütterung, die diese Autorin mit der wilden, bis in die Knochen fahrenden Erzählung über eine Frau im Kampf mit sich und dem Patriarchat in mir ausgelöst hat. Diese Solitärin hat mich verändert, mir etwas gezeigt, was ich bis dahin nicht sehen konnte – und mich klarer werden lassen, wer ich bin, sein will und sein kann. Ich verneige mich in Ehrfurcht und Dankbarkeit über die Zeit hinweg vor einer großen Schriftstellerin.

Empfehlung von MARIE KREUTZER
Filmregisseurin & Drehbuchautorin
Julia May Jonas
Ausnahmsweise war der Roman „Vladimir” von Julia May Jonas weder ein Geschenk noch eine Empfehlung, sondern ein Spontankauf vor einem Urlaub. Das Buch hat dann höchstens für zwei Urlaubstage gereicht, und schon bevor ich es ausgelesen hatte, habe ich den Filmproduzenten, mit dem ich arbeite, darauf angesetzt herauszufinden, ob die Verfilmungsrechte noch zu haben sind.
„Vladimir” ist die unglaublich kluge, raffinierte, traurige, witzige, hochaktuelle und wendungsreiche Geschichte einer Universitätsprofessorin Ende 50, deren Mann – ebenfalls Professor an derselben Universität – in einen #metoo-Skandal verwickelt ist. Die Vorwürfe beziehen sich auf Beziehungen zu Studentinnen, von denen die Protagonistin weiß, weil das Paar immer eine offene Beziehung geführt hat. Ihr wird von der Kollegenschaft, den Studierenden und der eigenen Tochter (einer lesbischen Anwältin mit Liebeskummer) vorgeworfen, dass sie bei ihrem Mann bleibt – die Schuld wird also, wie so oft, auf die Frau abgewälzt. Doch die lässt das gar nicht mit sich machen, weil sie sich zeitgleich obsessiv in einen jüngeren Kollegen, Vladimir, verliebt – und mit allen Mitteln versucht, ihn zu erobern. Mit wirklich allen, unerwarteten und extremen Mitteln.
Ich bin selten einer so furchtlosen Hauptfigur begegnet und ich habe selten einen Roman gelesen, der in so kompakter Form so leichtfüßig, komisch und elegant große Themen unserer Zeit verhandelt. Das Buch ist eine Wucht. Im Dezember war ich mit der Autorin in New York essen, nachdem ich mir ein von ihr geschriebenes Off Broadway-Theaterstück angeschaut hatte. „Vladimir” ist – nach vielen Theaterstücken – ihr erster Roman. Leider bin ich nicht diejenige, die ihn verfilmen wird.

Empfehlung von MARI LANG
Moderatorin & Podcasterin
Zeruya Shalev
Mit Anfang zwanzig war ich Teil der Literaturredaktion des Radiosenders FM4 und konnte so jede Menge neu erschienene Bücher lesen und rezensieren. Eines davon war der Roman „Mann und Frau“ der israelischen Autorin Zeruya Shalev, die ich bereits von ihrem Buch „Liebesleben“ – dem Auftakt einer Trilogie über die moderne Liebe – kannte. Die Geschichte über eine Ehe, die in eine Sackgasse geraten ist, hat mich nachhaltig beeindruckt. Besonders heute, da ich selbst verheiratet und Mutter zweier Kinder bin, berührt mich diese pointierte und wunderbar poetische Geschichte zweier Menschen, die zwischen Abgrund und Hoffnung, zwischen Ende und Anfang, hin- und herpendeln umso mehr. Denn Liebesbeziehungen sind für mich ohnehin eine der größten Wagnisse und Herausforderungen eines menschlichen Lebens – für kaum etwas braucht man mehr Courage!
Vom Mut des Hinschauens und Ehrlichseins, vor allem sich selbst gegenüber, erzählt „Mann und Frau“ auf schonungslos ehrliche und gleichzeitig leichtfüßig poetische Art und Weise. Ich empfehle das Buch jeder/jedem, die/der sich bewusst machen möchte, dass Liebe eine Reise ist, die zwar enden kann, aber niemals aufhört.

Empfehlung von PAMELA RUSSMANN
Chefredakteurin myGiulia
Hertha Pauli
Zugegeben: Das Erste, was mich an dieses Buch gekettet hat, ist sein poetischer, in jede meiner Zellen dringende Titel. Hertha Pauli wählte als Überschrift für ihre Erinnerungen dieses Zitat von Heinrich Heine, es hat sie die ganze Zeit über auf ihren Fluchtwegen von Wien über Zürich nach Paris, Marseille und Lissabon bis in die USA begleitet. Aber wer ist Hertha Pauli?
1906 in Wien geboren, gestorben 1973. Sie war Autorin und Schauspielerin und flüchtete nach der Machtergreifung der Nazis im März 1938 aus ihrer Heimatstadt Wien, die sich mehr und mehr in ein feindseliges Schlachtfeld veränderte, Richtung Westeuropa. Die Erinnerungen von Hertha Pauli sind nicht nur eine weitere, erschütternde Beweisführung der schleichend sich steigernden Gräueltaten des NS-Regimes: Das, was Hertha Paulis Erzählungen so berührend und spannend macht, ist die sehr private, von Alltagssituationen benetzte Perspektive einer couragierten jungen Frau, die inmitten von Verlusten, Chaos und Gefahren nie den Gestaltungswillen, die Hoheit über ihr eigenes Leben aufgibt. Die unmittelbare, manchmal pragmatische, manchmal wehmütige Sprache tut ihr Übriges: Selten bin ich so gebannt und gespannt einer Frau auf einer immer wieder aussichtslosen Reise, die sich wie ein Krimi liest, gefolgt.
Spannend ist auch, dass die Autorin Hertha Pauli zwar von einem Haufen berühmter intellektueller Männer ihrer Zeit umgeben war (Ödön von Horváth, Joseph Roth, Franz Werfel, Walter Benjamin), aber unbeeindruckt von dem wenig praktikablen „Geniestatus” dieser Männer, mit Tatkraft und Empathie die kleine Gruppe von Auswanderern und Auswanderinnen in verschiedenen Städten mit viel Herz zusammengehalten hat. Sechs Bücher hat die Pauli in ihrem Leben auf Deutsch und 23 auf Englisch verfasst. Es ist Wissenschaftlerinnen wie Ursula Gabl zu verdanken, dass diese Exilliteratin durch die Frauenbiografieforschung wiederentdeckt wurde.

Empfehlung von JULIA RITTER
Podcasterin (mit Sophia Stanger) „Die Buch. Der
feministische Buchpodcast“
Deborah Levy
„To separate from love is to live a risk-free life. What’s the point of that sort of life?”,
schreibt Deborah Levy im zweiten Teil ihrer dreiteiligen Autobiographie „The Cost of Living”. Während sie sich in „Things I Don’t Want to Know” mit ihrer Kindheit in Südafrika befasst und in „Real Estate” das Leben als Endfünfzigerin unter die Lupe nimmt, umkreist „The Cost of Living” das Ende ihrer Ehe und ihres Familienlebens. Auf Deutsch heißt das Buch „Was das Leben kostet”, und für Deborah Levy kostet es eine Menge. Mit dem Titel ihres Buches meint sie nicht nur die „Cost of Living Crisis“ in Großbritannien, die horrenden Mietpreise und die schlecht instandgehaltene Wohnung, in der sie nach ihrer Trennung zieht, sondern auch die persönlichen, psychischen, emotionalen Kosten von Beziehungen, Liebe, Freiheit.
Was sich die Ich-Erzählerin (fast, aber nicht ganz ident mit der Autorin) in „The Cost of Living” erarbeitet, ist ihre Freiheit zu schreiben, sie selbst zu sein und ein künstlerisches Leben abseits des familiären Umfelds zu führen. Im dritten Teil ihrer Autobiographien, „Real Estate”, lebt sie diese Freiheit und muss sie sich doch immer wieder erkämpfen. Gleichzeitig wirft sie den Glauben an Liebe und menschliche Nähe, in all ihren Formen, nicht weg. Er ist am Ende eben doch ein Teil des Lebens, wenn auch nicht risikofrei, und erfordert eine ganz schöne Portion Mut.
In unserem Podcast „Die Buch. Der feministische Buchpodcast“ wird unser Gespräch über Deborah Levys dreiteilige Autobiographie bald zu hören sein – stay tuned!

Empfehlung von SOPHIE STANGER
Podcasterin (mit Julia Ritter) „Die Buch. Der
feministische Buchpodcast“
Yaa Gyasi
Wer schreibt die Geschichte und wessen Stimme wird kategorisch aus der Geschichtsschreibung ausgeschlossen? Im Roman „Heimkehren“ (Penguin, 2016) schreibt Yaa Gyasi: „Wir glauben dem, der die Macht hat. Er darf seine Geschichte schreiben.“ Auch wenn Romane keine Geschichtsbücher sind, so schreiben sie doch Geschichten von Menschen, die uns eine andere Perspektive auf historische Ereignisse ermöglichen. Und genau das gelingt diesem Buch äußerst gut. Die ghanaische Autorin Yaa Gyasi spannt darin einen Bogen über 200 Jahre Kolonialgeschichte. Der Roman beginnt mit der Erzählung zweier Schwestern: Effia heiratet einen britischen Soldaten in Ghana, während Esi aus ihrem westafrikanischen Heimatland in die USA als Sklavin verschifft wird. Die Nachfahr*innen der beiden erleben Plantagenarbeit und anti-kolonialen Widerstand, Zwangsarbeit in Kohleminen und Studierendenrevolte. Und wir spüren: Traumatische Momente der Geschichte Ghanas und der USA sind nicht einfach passiert – sie wurden von Menschen erlebt.
Wer einen Einblick in das Buch bekommen möchte, kann sich dazu unsere Podcast-Episode von „Die Buch. Der feministische Buchpodcast“ anhören: „#10 Warum Kolonialgeschichte nicht gleich Geschichte ist – ‚Heimkehren‘ von Yaa Gyasi“. Darin sprechen wir über die großen Verbindungslinien in der Geschichte – von der Kolonialzeit bis ins Heute. Und ihr bekommt bestimmt Lust auf mehr...
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